Yascha Mounk ist ein deutsch-amerikanischer Politikwissenschaftler, der als Dozent an der Harvard University in Boston arbeitet. Er ist Senior Fellow am SNF Agora Institute der Johns Hopkins University. Als freier Publizist schreibt er unter anderem für die "New York Times", "The Wall Street Journal" und "Foreign Affairs".
Nach mehr als drei Jahren des Herumkasperns
und Zauderns ist Großbritannien am 31. Januar endlich offiziell aus der
Europäischen Union ausgetreten. In dem Teil des
Kontinents, den die Briten bezeichnenderweise overseas nennen, wird dann die
Versuchung groß sein, diesen Scheidungsvertrag als einen Erfolg darzustellen. Denn
anders als Politiker wie Boris Johnson immer wieder behaupten, haben die
Europäer in ihren Verhandlungen mit London stets zusammengehalten.
Und da der politische Zustand in Westminster nicht gerade inspirierend
ist, scheint vorerst auch die Gefahr einer antieuropäischen Epidemie gebannt zu
sein: Von Polen bis Griechenland spricht sich ein Großteil der Bevölkerung für
einen Verbleib in der EU aus. Der Brexit ist da, doch bis zu einem etwaigen Polexit oder Grexit wird es noch lange
dauern.
Dennoch wäre es ein
großer Fehler, den Brexit gelassen hinzunehmen. Das hat weniger mit der Bedeutung
Londons für den Rest Europas als mit den tiefen strukturellen Problemen, an denen
die Europäische Union schon seit Langem leidet, zu tun. Denn selbst überzeugte
Europäer müssen einsehen: Die Realität der EU hat sich schon lange von den
Grundwerten Europas verabschiedet.
Die EU behauptet von
sich, ein Club demokratischer Werte zu sein; tatsächlich aber toleriert sie Diktatoren
in ihrer Mitte. Die EU behauptet von sich, demokratische Entscheidungen zu
treffen; tatsächlich aber schenkt der vermeintliche Souverän den Vorgängen in
Brüssel wenig Beachtung und hat über sie kaum Kontrolle. Und die EU behauptet
von sich, einen immer engeren Verbund zwischen ihren Mitgliedstaaten schmieden
zu wollen; tatsächlich aber sind Träume von einer postnationalen Zukunft schon
längst Geschichte.
Diktatoren in Warschau und Budapest
Die Europäische Union
ordnet mittlerweile die europäische Agrikultur und die europäische Währung. Sie
bestimmt, welche Produkte wie produziert werden dürfen. Der Europäische Gerichtshof darf nationales Recht umstoßen – und greift ab und an empfindlich
in lokale Sitten ein. Dafür gibt es gute
Gründe. Viele deutsche Staatsbürger verstehen durchaus, warum sie ihre Souveränität
zu einem solch hohen Grad mit französischen oder schwedischen Staatsbürgern
teilen sollten. Denn alleine hat Deutschland nur sehr begrenzten Einfluss auf
die Welt. Ernste Probleme – zum Beispiel im Umweltschutz – können
kleine oder mittelgroße europäische Staaten allein kaum lösen. Indem sie sich
im Rahmen der EU zusammenschließen, wird ihre Stimme viel lauter.
Das bedeutet aber auch,
dass es einen großen Unterschied macht, wer da genau mit am Tisch sitzt. Und
mittlerweile teilen deutsche Bürger ihre Souveränität eben nicht nur mit den
freien Bürgern anderer demokratischer Staaten – sondern auch mit aufstrebenden
Diktatoren in Warschau und Budapest.
Als diese Populisten zum ersten Mal an die Macht kamen, versicherten europäische Spitzenpolitiker immer wieder, dass Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński die demokratischen Institutionen ihrer Länder – gerade weil diese Mitglied der EU sind – nicht abschalten könnten. Das war ein Trugschluss. Und doch gibt es keine ernsthaften Pläne dafür, die EU-Mitgliedschaft – oder auch nur das Stimmrecht – dieser undemokratisch regierten Ländern zu suspendieren.
Für freie Staatsbürger ist
dies langfristig inakzeptabel. Ihre Souveränität mit den freien Staatsbürgern
anderer Länder zu teilen ist eine Sache. Sie an Autokraten und Diktatoren zu
delegieren, eine vollkommen andere.
Die Verfassung der EU ist
in den letzten Jahrzehnten ein wenig demokratischer geworden. Das Europäische Parlament hat heute mehr Kompetenzen. Von Athen bis Helsinki schenken Menschen den
Wahlen zum Europäischen Parlament gar ein wenig mehr Beachtung, als sie es
früher taten.
Kommentare
Jacques-Louis
#1 — 1. Februar 2020, 7:54 UhrEntfernt. Bitte bleiben Sie beim Thema. Danke, die Redaktion/vh
Wichtiger Hinweis
#1.1 — 1. Februar 2020, 8:00 UhrDer Kommentar, auf den Sie Bezug nehmen, wurde bereits entfernt.
Der Ossy
#2 — 1. Februar 2020, 7:56 UhrIch fürchte, die EU ist morsch bis in ihren Kern, undemokratisch und nicht reformierbar. Wir werden sehen.
Wichtiger Hinweis
#2.1 — 1. Februar 2020, 8:02 UhrSo ist es.
Und unter Reformen versteht jeder etwas anderes und denkt dabei an die Vorteile für sein Land (siehe Macron).
Wichtiger Hinweis
#3 — 1. Februar 2020, 7:57 UhrParteien wie die AfD haben längst die besseren Konzepte, wie man die EU zukunftssicher reformieren kann.
d353rt
#3.1 — 1. Februar 2020, 8:02 UhrOh ja, die Höcke-Partei löst bestimmt alle unsere Probleme. Todsicher.
km18
#4 — 1. Februar 2020, 7:57 Uhr„ Denn selbst überzeugte Europäer müssen einsehen: Die Realität der EU hat sich schon lange von den Grundwerten Europas verabschiedet.
Die EU behauptet von sich, ein Club demokratischer Werte zu sein; tatsächlich aber toleriert sie Diktatoren in ihrer Mitte. Die EU behauptet von sich, demokratische Entscheidungen zu treffen; tatsächlich aber schenkt der vermeintliche Souverän den Vorgängen in Brüssel wenig Beachtung und hat über sie kaum Kontrolle. Und die EU behauptet von sich, einen immer engeren Verbund zwischen ihren Mitgliedstaaten schmieden zu wollen; tatsächlich aber sind Träume von einer postnationalen Zukunft schon längst Geschichte. „
Das hier zu lesen - das ist eine Genugtuung nach all der Polemik.
Besten Dank!
Wichtiger Hinweis
#4.1 — 1. Februar 2020, 8:09 Uhr"und hat über sie kaum Kontrolle"
Die Briten konnten ihren Traum vom take back control wahr machen.
Deshalb sollte in jedem Mitgliedsland eine Volksabstimmung über den Exit durchgeführt werden.
Dann wäre die EU zwar am Ende, aber den Menschen ginge es besser.