Unter den vielen außenpolitischen Herausforderungen, vor denen die EU im Jahr 2020 steht, wird das Hauptthema sein, wie die Union sich auf der Weltbühne gegen China, die USA und Russland behaupten kann. Dabei soll zumindest ein Hauch von Multilateralismus und globaler Ordnung gewahrt werden.
Die neue Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat Europa bereits dazu aufgerufen, „die Sprache der Macht zu lernen“.
Sie selbst wolle eine „geopolitische Kommission“ führen.
Der neue Chefdiplomat der EU, Josep Borrell, schloss sich von der Leyens Worten an und erklärte dem Europäischen Parlament in seiner Bestätigungsanhörung, er sei „überzeugt, dass Europa irrelevant wird, wenn wir nicht gemeinsam handeln“.
Seiner Meinung nach haben die Entscheidung des Vereinigten Königreichs, die EU zu verlassen, der Ausstieg Washingtons aus dem Nuklearabkommen mit dem Iran und das Versagen Europas, zur Stabilisierung seiner Nachbarn vom Kaukasus bis zur Sahara beizutragen, die globale Schlagkraft der EU weiter untergraben.
Angesichts eines immer mächtigeren und durchsetzungsfähigeren Chinas und der unberechenbaren Trump-Administration in den Vereinigten Staaten, die ihre „America First“-Agenda weiter verfolgt, müsse Europa viel energischer versuchen, seiner Stimme auf globaler Ebene Gehör zu verschaffen und seine Interessen zu verteidigen, so Borrell.
Im Folgenden eine Übersicht über die Themen, die die EU-Außenpolitik in den kommenden Monaten (und Jahren) beschäftigen werden.
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EU-Afrika
Eine der wichtigsten Fragen für das kommende Jahr (und die gesamte fünfjährige Amtszeit) wird sein, ob die neue Europäische Kommission ihre Versprechen gegenüber Afrika einhalten kann. Es gab bereits erste Anzeichen dafür, dass der Kontinent in naher Zukunft ganz oben auf der außenpolitischen Agenda der EU stehen könnte.
Kommissionspräsidentin von der Leyen versicherte, die EU werde Afrika unterstützen, aber auch neue Formen der Beziehung anstreben. Ihre erste Amtsreise außerhalb Europas führte sie ebenfalls auf den südlichen Nachbarkontinent.
Ein weiteres symbolisches Zeichen ist die Ersetzung des bisherigen Entwicklungsressorts durch eine neue Kommissionsstelle für „internationale Partnerschaften“, die von Finnlands ehemaliger Finanzministerin Jutta Urpilainen geleitet wird. Eine der Aufgaben, die von der Leyen in ihrem Auftragsschreiben an Urpilainen betont, ist die Entwicklung einer „umfassenden Strategie für Afrika“.
„Ich hoffe, dass meine Besuch bei der Afrikanischen Union eine starke politische Botschaft aussenden kann, denn der afrikanische Kontinent und die Afrikanische Union sind für die Europäische Union und die Europäische Kommission von Bedeutung,“ sagte von der Leyen nach einem Treffen mit dem Vorsitzenden der Afrikanischen Union, Moussa Faki Mahamat, in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba.
Die deutsche Kommissionspräsidentin bekräftigte: „Für uns sind Sie mehr als nur Nachbarn.“
Die EU ist aktuell zwar der größte Handelspartner Afrikas sowie die größte Quelle für ausländische Investitionen und Entwicklungshilfe, aber die Europäer werden ihr Angebot an die afrikanischen Führer, die mit zunehmendem chinesischen Einfluss und Investitionen konfrontiert sind, verbessern müssen.
Andere Herausforderungen werden darin bestehen, diese Wirtschaftsbeziehungen auch mit der Sicherheits- und Migrationspolitik zu verknüpfen bzw. sie in Einklang zu bringen.
Die beiden Blöcke haben sich in den vergangenen Jahren bemüht, Wege zur Eindämmung der Migration über das Mittelmeer zu finden. Sowohl Vertreter der Afrikanischen Union als auch der Europäischen Union scheinen weiterhin daran interessiert zu sein, vor allem die Ursachen der Migration anzugehen. Doch während die EU die Friedens- und Sicherheitsbemühungen der AU lobt, zum Beispiel die Afrikanische Friedensfazilität, signalisierten europäische Beamte auch die Absicht, sich aus einigen regionalen Friedensmissionen, zum Beispiel in Somalia, zurückzuziehen.
In dieser Hinsicht wird auch interessant bleiben, inwiefern sich die Pläne der EU von denen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron unterscheiden. Macron hatte nämlich mehr militärisches Engagement auf dem afrikanischen Kontinent gefordert. Frankreich stellt bereits das größte Militärkontingent der westlichen Welt, das in Mali und der weiteren Sahelregion Operationen gegen aufständische Milizen durchführt und/oder unterstützt. Dennoch hat sich die Sicherheitslage zunehmend verschlechtert; und mit al-Qaida und dem Islamischen Staat verbündete Kämpfer haben ihre Position in der gesamten Region stärken können.
Laut einer Ankündigung der französischen Regierung soll Anfang 2020 ein französisch-afrikanischer Gipfel mit fünf Präsidenten aus Sahel-Ländern stattfinden. Macron sagte nach dem letzten NATO-Gipfel in London im Dezember, er erwarte in dieser Hinsicht, dass die Führer von Mali, Niger, Burkina Faso, Tschad und Mauretanien „ihre Forderungen gegenüber Frankreich und der internationalen Gemeinschaft klar machen“. Die Frage für Frankreich und den Rest Europas sowie des Westens sei: „Wollen sie unsere Anwesenheit; und brauchen sie sie? Ich wünsche mir klare Antworten auf diese Fragen.“
Die neue EU-Kommission scheint ebenfalls gewillt, sich gegebenenfalls wieder verstärkt einzubringen. In einer kürzlich veröffentlichten Erklärung sagte der Hohe Außenvertreter Borrell, „eine stärkere, kollektive und dauerhafte Antwort“ sei „zur Auslöschung der tieferliegenden Ursachen von Terrorismus und Instabilität“ dringend notwendig.
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Türkei-Syrien-Libyen
In der nahen Zukunft dürften vor allem die militärisch-strategischen Aktionen der Türkei sowohl der NATO als auch der EU Kopfschmerzen bereiten. So ist Ankara zunehmend isoliert im östlichen Mittelmeerraum, wo es wegen seiner Pläne zur Erschließung der Gas- und Ölvorkommen vor Zypern mit Griechenland im Streit liegt. Aus Sicht Athens verstoßen die türkischen Bohrungen in diesem Gebiet gegen internationales Recht.
Seit 2016 hat die Türkei darüber hinaus drei Militäroperationen in Nordsyrien gestartet, hauptsächlich um die kurdische YPG zu bekämpfen, die von der türkischen Führung als „Terrororganisation“ betrachtet wird. In der umstrittenen Operation im Oktober 2019 hat die Türkei einen Streifen syrischen Territoriums besetzt, der laut Ankara als „Sicherheitszone“ zum Schutz vor Anschlägen sowie zur Rückführung eines Teils der aktuell 3,6 Millionen syrischen Geflüchteten in der Türkei dienen soll.
Derweil kehrt auch in Libyen keine Ruhe ein: Nachdem die 2011 von der NATO unterstützte Intervention die 42 Jahre andauernde Herrschaft von Muammar al-Gaddafi beendet hatte, versuchte kürzlich der General Chalifa Haftag mit seinen Militärkräften, die von der UNO unterstützte Regierung in Tripolis zu entmachten.
Am 2. Januar hat das türkische Parlament in Reaktion einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der die Entsendung von Streitkräften nach Libyen genehmigt, um Haftar, der wiederum von den regionalen Gegnern der Türkei unterstützt wird, zu bekämpfen. Im Rahmen der geplanten militärischen Unterstützung soll die Türkei angeblich auch erwägen, verbündete syrische Kämpfer nach Libyen zu entsenden.
„Die EU bekräftigt ihre feste Überzeugung, dass es keine militärische Lösung für die Krise in Libyen gibt“, betonte ein EU-Sprecher in Reaktion darauf am 3. Januar. Er fügte hinzu, Maßnahmen zur Unterstützung der Konfliktparteien drohten, das Land und die Region weiter zu destabilisieren.
Für die EU ist die aktuelle Eskalation der diversen Konflikte im Nahen Osten und in Nordafrika auch von Bedeutung für die Situation daheim: Schließlich dürften neue Kämpfe auch mit neuen Flüchtlingsbewegungen einhergehen.
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Israel-Palästina
In einer Nachricht an den neuen Chefdiplomaten der EU hatte Luxemburgs altgedienter Außenminister Jean Asselborn kurz nach Borrells Amtsantritt Gespräche gefordert, wie die Bemühungen um eine „Zwei-Staaten-Lösung“ im Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina unterstützt werden könnten.
In seinem Schreiben an Borrell legte Asselborn eine „Debatte“ über die potenzielle Anerkennung der palästinensischen Staatlichkeit nahe. Dies könne beispielsweise bei einem der kommenden EU-Außenministertreffen im Jahr 2020 diskutiert werden. Der Luxemburger betonte weiter, er sei der Ansicht, dass „es an der Zeit ist, innerhalb der Europäischen Union eine Debatte über die Möglichkeit einer Anerkennung des Staates Palästina durch alle EU-Mitgliedstaaten zu beginnen“.
Obwohl es in Teilen Europas gewisse Sympathien für diese Idee gibt, hat die EU als Ganzes bisher keine einheitliche Position zur Anerkennung Palästinas als eigenen Staat bezogen. Dies wird eher als eine Angelegenheit der einzelnen Mitgliedsstaaten angesehen.
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Iran
Nach mehreren schweren Rückschlägen im vergangenen Jahr pfeift der Atomdeal mit dem Iran, der einst als Erfolg der EU-Diplomatie gefeiert wurde, auf dem letzten Loch. Experten erklärten gegenüber EURACTIV, trotz der europäischen Bemühungen, das Abkommen doch noch zu retten, könne man dem Deal für 2020 nur sehr geringe Überlebenschancen ausrechnen.
Die Europäer hatten wiederholt ihre Verpflichtung zur Einhaltung des Abkommens erklärt. Doch nach einer Reihe gezielter Verstöße gegen die Bedingungen des Atomabkommens durch den Iran und dem Austritt der USA aus dem Deal steigen die Spannungen seit Monaten an – und scheinen nun zu eskalieren.
Anstehende Wahlen sowohl im Iran (Februar) als auch in den USA (November) dürften die Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten wohl weiter verringern. Dies gilt insbesondere nach der gezielten Tötung des iranischen Generals Qassem Soleimani im Irak, den jüngsten US-Luftangriffen gegen pro-iranische Milizen sowie der Erstürmung der US-Botschaft in Bagdad zum Jahreswechsel.
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Westbalkan
Nach dem „Non“ des französischen Präsidenten Macron zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit den Balkanstaaten Nordmazedonien und Albanien, besteht für die EU eine ihrer größten Herausforderungen möglicherweise direkt „vor der eigenen Haustür“.
Die diplomatischen Bemühungen zur Wiederbelebung des Beitrittsprozesses dürften in den kommenden Monaten bis zum EU-Westbalkan-Gipfel im Mai unter der kroatischen EU-Ratspräsidentschaft erneut intensiviert werden.
Die Balkanstaaten haben indes weiterhin Mühe, EU-Standards in Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung zu erfüllen. Angesichts der wachsenden Skepsis einiger EU-Mitgliedsstaaten – wie eben Frankreich – bezüglich der Aufnahme neuer EU-Mitglieder, werden die Balkanstaaten inzwischen auch intensiv von anderen Akteuren umworben, darunter Russland, China und die Türkei.
Obwohl Borrell betont hat, die sechs Staaten – Serbien, das Kosovo, Montenegro, Albanien, Bosnien-Herzegowina und Nordmazedonien – seien für ihn eine wichtige Priorität, muss er seine Haltung gegenüber der Region erst noch unter Beweis stellen. Ein weiteres pikantes Problem in dieser Hinsicht: Borrell kommt aus Spanien, einem der sechs EU-Staaten, die das Kosovo nicht als eigenständigen Staat anerkennen.
Der EU-Außenvertreter hatte bei seiner Amtsübernahme erklärt, sein erster Auslandsbesuch werde ihn in das Kosovo führen. Europa könne kein „globaler Akteur sein, wenn wir noch nicht einmal unsere Probleme zu Hause lösen können“, so Borrell auf Nachfrage zu seiner Positionierung zum Thema Westbalkan.
Trotz seiner grundsätzlichen Zurückhaltung bei der Erweiterung hat inzwischen auch Präsident Macron angedeutet, er wolle sich für die Balkanregion einsetzen. So könnte beispielsweise ein zusätzlicher, hochrangig besetzter Gipfel in Paris stattfinden.
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Östliche Partnerschaft
„Sie sollten bis Mitte 2020 neue langfristige politische Ziele für die Östliche Partnerschaft (ÖP) vorschlagen,“ schrieb Kommissionspräsidentin von der Leyen in ihrem Missionsbrief an den neuen Chef für die Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik, den Ungarn Olivér Várhelyi.
Erst vor kurzem hatte die Europäische Volkspartei (EVP) einen Vorschlag vorgelegt, der eine schnellere und tiefere sektorale Einbindung der drei Länder mit dem größten Integrationswillen in die EU-Prozesse – Ukraine, Georgien und Moldawien – ermöglichen soll.
Der Gipfel zum 10. Jahrestag der ÖP in Brüssel im vergangenen Jahr hatte derweil ursprünglich das Ziel, „die Agenda der Östlichen Partnerschaft über 2020″ hinaus weiterzuentwickeln. Allerdings enthielt die Jubiläumserklärung kein konkretes Angebot für potenzielle EU-Mitgliedschaften oder eine Anerkennung der „europäischen Bestrebungen“ der Östlichen Partnerschaftsländer.
Dies war insbesondere für die Regierungen in der Ukraine und in Georgien enttäuschend.
Im Gespräch mit EURACTIV forderte Polens Außenminister Jacek Czaputowicz kürzlich erneut eine politische Aufwertung der Östlichen Partnerschaft.
Neben einer engeren Anbindung an die EU und einer möglichen Freihandelszone zwischen den sechs ÖP-Mitgliedern könnte diese Aufwertung auch neue Instrumente wie ein ständiges Sekretariat der ÖP-Staaten in Brüssel beinhalten, welches einen direkteren Kontakt mit den EU-Institutionen ermöglichen würde. Eine weitere Idee ist eine rotierende Präsidentschaft der Östlichen Partnerschaftsländer, die somit an der ebenfalls halbjährlich wechselnden EU-Ratspräsidentschaft angepasst wäre und engere Kooperation ermöglichen könne.
Eine Möglichkeit, diese und andere Optionen zu diskutieren, wird der nächste ÖP-Gipfel sein, der noch in der ersten Hälfte des Jahres stattfinden soll.
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China
Das weiterhin scheinbar unaufhaltsam aufstrebende China wird auch für die neue EU-Kommission ein wichtiger Partner – und möglicher Kontrahent – sein.
Im Jahr 2020 stehen mindestens zwei formelle EU-China-Gipfel auf der Tagesordnung. Beide Seiten planen dabei, auf ihrer „strategischen Partnerschaft“ aufzubauen. Allerdings drohen größere Streitigkeiten in den Bereichen Menschenrechte, Handel und Sicherheit, wobei der potenziell größte Kollisionspunkt das 5G-Problem Europas ist.
Auf das erste Treffen in Leipzig, bei dem die EU durch Ratspräsident Charles Michel und Kommissionschefin von der Leyen vertreten werden soll, folgt ein zweiter, größer angelegter Gipfel mit allen EU-Staats- und Regierungschefs sowie der chinesischen Führung während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr.
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USA
Angesichts der im November anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA denken Experten bereits darüber nach, welche Effekte die Wahlergebnisse auf Europa haben könnten: Schließlich ist Washington nach wie vor der wichtigste nicht-europäische Partner in Sicherheitsfragen.
Ansonsten bleibt abzuwarten, wie sich das Verhältnis der EU zu Trump im Laufe des Wahlkampfes – und möglicherweise auch nach der Wahl, wenn er wiedergewählt werden sollte – entwickelt. Bislang spielt Europa in den außenpolitischen Wahldebatten in Amerika eine eher untergeordnete Rolle.
Aus wirtschaftlicher Sicht sind die Interessen der EU-Kommission recht klar: Brüssel geht es darum, neue US-Strafzölle, beispielsweise für Autoimporte aus Europa, zu verhindern. Heikel könnten die Spannungen indes im Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2 zwischen Russland und Deutschland werden. Die USA würden es aus geopolitischen und eigenen Export-Interessen (Stichwort LNG) begrüßen, wenn diese Pläne doch noch eingemottet werden.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]