Die Stimme meiner
Mutter ist auf der Festplatte meiner frühesten Kindheitseindrücke gespeichert.
Sie klingt immer zärtlich und nervös zugleich. In meiner Erinnerung ruft sie
mich vom Balkon unseres Reihenhauses in Bonn. Ich hocke im Garten, gegen den Stamm
des großen Kirschbaumes gelehnt. Ich sitze da und kritzele auf ein Stück Papier. Meine Mutter
fragt nach mir. Intervallartig und immer lauter. In einer ähnlich verzweifelt
klingenden Tonlage, in der ich heutzutage wohl eines meiner eigenen Kinder
rufen würde, wenn es unauffindbar in einem Supermarkt herumirren würde. An der
zunehmenden Lautstärke ihrer Stimme erkannte mein sechsjähriges Ich immer,
dass es Zeit war, wieder hochzugehen, ins Haus reinzukommen. "Ach, da bist du",
sagte sie dann. "Ist was?", fragte ich. "Nein, nichts."
Ich war wie fast alle
Kinder der Babyboomer-Generation ein Wunschkind. Nicht irgendein Wunschkind.
Sondern das sinnstiftende, die Ehe reparierende Wunschkind. Meine Mutter wollte
Kinder. Davon hing alles ab. Und dann kam ich. Der Sinn, dem alles andere
untergeordnet wurde.
"Warum sollte die kleine Caroline nicht genauso viel wie eine Karriere wert sein?", habe sie sich einmal gefragt. Das erzählte sie mir vor Jahren. Sie fand keine gute Antwort auf die Frage, warum ich nicht das Wichtigste in ihrem Leben sein sollte und blieb zu Hause. Lief mir nach, wischte den Rotz von meiner Kindernase, nahm mich jeden Tag zum Einkaufen mit, backte mir Kirsch-Marzipan-Kuchen, nähte mir rosa-weiß gestreifte Latzhosen mit Schmetterlingen und stickte meinen Namen drauf.
Meine Mutter gehörte zu der Gattung der Helikoptereltern, 20 Jahre bevor es das Wort überhaupt gab. Ich wurde als Kind und Heranwachsende überbehütet, täglich im Auto zur Schule gefahren und abgeholt, frühgefördert, gelobt, vor Fremden und Freunden in Schutz genommen, weil ich für alles beklatscht werden und mich nebenbei frei entfalten sollte, gleichzeitig gehorchen musste und nie alleine war. Wirklich nie. Meinen letzten Babysitter, der mich ins Bett brachte, hatte ich als Teenager, da war ich 14 Jahre alt.
Heute sagen Wissenschaftler, dass Helikoptereltern ihren Kindern schaden. Sie werden von Pädagogen wie dem Kinderpsychiater Michael Winterhoff kritisiert, ihren Nachwuchs zur Unselbstständigkeit zu erziehen. Sie würden Lehrer mit ihren Erwartungen für ihre Zöglinge terrorisieren und ihnen auf diese Weise gute Noten sichern, erklärte der lauteste Kritiker von Helikoptereltern, der Gymnasialdirektor und ehemalige Präsident des Lehrerverbandes Josef Kraus. In der neuen Mocumentary-Serie Andere Eltern des Senders TNT dürfen alle lachen, wenn vier Paare eine Elterninitativ-Kita samt Yoga und Schamane gründen wollen.
Ginge das so weiter, würde sich auch unsere Gesellschaft wandeln, moniert Kraus. "Lebten in ihr eines Tages nur noch gedrillte, verwöhnte, verschonte und überbehütete Menschen, würde dieses demokratische Gemeinwesen nicht mehr funktionieren, weil dann die tragfähige Basis fehlte", sagt er. Meine Familie hätte ihm nicht gefallen.
Wir wohnten in einem grünen bewaldeten Teil des Rheinlandes – Parks, Auen und ein Bauernhof waren in Fahrradentfernung. Alleine durfte ich allerdings nicht dorthin. Wenn meine Schulkameradinnen nachmittags klingelten und fragten, ob Caroline zum Spielen rauskommen könnte, schickte meine Mutter sie wieder weg. "Das geht nicht", sagte sie dann an der Tür. Ich hörte es aus dem Nebenzimmer. Wenn ich wissen wollte, warum ich nicht raus zum Spielen durfte, hieß es, dass unser Garten groß genug sei, dass ich noch Hausaufgaben zu machen hätte, dass ich das Streu des Hamsters wechseln musste, mein Zimmer aufräumen, Geige üben. Mir war nur erlaubt, Dinge im Haus oder im Garten zu tun, bei denen ich mich nicht verletzten konnte.
Der Radius, in dem Kinder sich beim Spielen frei bewegen können, ist extrem geschrumpft. Dazu gibt es eine Studie des Deutschen Kinderhilfswerks. In den Sechzigerjahren konnten sich Kinder etwa zwei Kilometer alleine von ihrem Zuhause wegbewegen, heute beträgt der Abstand 500 Meter. Mein Spielraum damals reichte sogar gerade einmal 100 Meter bis zum Gartenzaun. Als Kind war mir das aber egal. Mein Leben war in Watte gepackt, aber dennoch alles andere als schlecht.
Kommentare
pvonwerther
#1 — 21. Juni 2019, 22:17 UhrWelch ein Käse ; sowohl der erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisse seit Rousseaus
und der heutigen Zeit!
Es gibt im Pflegeinstinkt der Eltern keine Über-Behütungen , sondern nur Gängelung und Vernachläßigung der erziehenen Behüter!!!
Summer25
#1.1 — 21. Juni 2019, 23:06 UhrIch würde mir mal anschauen, von welchen Erfahrungen Therapeuten berichten.
https://www.spiegel.de/leben…
the obscure lobster
#2 — 21. Juni 2019, 22:17 UhrOhne ihnen zu Nahe treten zu wollen Frau Rosales, aber das hört sich ja furchtbar an. Gab es denn nie den Wunsch auszubrechen und dann mit 25 Jahren Wellenreiten auf abgelegenen Inseln Indonesiens zu betreiben oder 4 Tage dauerravend in Berlin zu feiern?
Ich erinnere mich voller Freude daran Stunden mit Freunden im Wald verschwunden gewesen zu sein und dass meine Eltern natürlich froh waren, wenn ich an einem Stück wieder aufgetaucht bin. Versucht haben meine Eltern natürlich auch mein leben in "bessere und sicherere" Bahnen zu lenken, was dann aber nur meine Gegenreaktion verstärkt hat.
Andererseits ist man wohl froh über das was einen geformt hat, wenn man zufrieden ist mit dem was aus einem geworden ist, nehme ich küchentischpsychologisch mal an.
Windom_Earle
#2.1 — 21. Juni 2019, 23:13 Uhr"Andererseits ist man wohl froh über das was einen geformt hat, wenn man zufrieden ist mit dem was aus einem geworden ist, nehme ich küchentischpsychologisch mal an."
Bingo. Wenn man mit sich selbst im Reinen ist, dann neigt man dazu, alle Erfahrungen, die man gemacht hat, als die richtigen Bausteine auf dem Weg dorthin zu begreifen. Ob das der LSD-Trip mit 15 ist, das Rausfliegen von Zuhause mit 18 oder der Nordseeurlaub als behütetes Einzelkind mit 11 sind.
Die Menschen sind auch unterschiedlich, mit Erziehung hat das nicht unbedingt zu tun. Manche wollen niemals nach Indonesien und bleiben brav daheim, wie sie es sollen, andere rebellieren, wenn sie es nicht dürfen.
Đakovo
#3 — 21. Juni 2019, 22:23 Uhr"Denn während Experten wie Josef Kraus Helikopterkinder zu lebensfremden Weicheiern stilisieren"
Bei "Experten" wäre ich sehr vorsichtig, besonders dann, wenn sie pauschalisieren. Wenn Leute Wortschöpfungen wie "Helikopterkinder" kreieren, haben sie definitiv zu viel Freizeit, behaupte ich mal pauschal :)
Sperminator
#3.1 — 21. Juni 2019, 23:34 UhrÜberbehütete Kinder sind viel schädlicher fürs Klima als normale Kinder.
KevinPascal
#4 — 21. Juni 2019, 22:24 UhrBedingungslose Liebe bedeutet nicht zwanghafter Kontrollwahn. Den schulischen Erfolg als Gradmesser für den Erfolg von Helikopterelterntum heranzuziehen halte ich für falsch.
Anonymus321
#4.1 — 21. Juni 2019, 23:36 UhrIch denke, dass manche Personen ihr Leben einfach schönreden und sich dafür die Argumente zurecht legen. Zum Teil bin ich nämlich genauso und sehr glücklich. Die Masse der Leute mit solchen Eltern, die ich kenne, fanden diese Art der Erziehung dagegen ziemlich unschön.
Persönlich bin ich ziemlich dankbar, dass meine Eltern mir lediglich Vernunft eingetrichtert haben, dann aber selbst entscheiden lassen.