Die Stimme meiner Mutter ist auf der Festplatte meiner frühesten Kindheitseindrücke gespeichert. Sie klingt immer zärtlich und nervös zugleich. In meiner Erinnerung ruft sie mich vom Balkon unseres Reihenhauses in Bonn. Ich hocke im Garten, gegen den Stamm des großen Kirschbaumes gelehnt. Ich sitze da und kritzele auf ein Stück Papier. Meine Mutter fragt nach mir. Intervallartig und immer lauter. In einer ähnlich verzweifelt klingenden Tonlage, in der ich heutzutage wohl eines meiner eigenen Kinder rufen würde, wenn es unauffindbar in einem Supermarkt herumirren würde. An der zunehmenden Lautstärke ihrer Stimme erkannte mein sechsjähriges Ich immer, dass es Zeit war, wieder hochzugehen, ins Haus reinzukommen. "Ach, da bist du", sagte sie dann. "Ist was?", fragte ich. "Nein, nichts."

Ich war wie fast alle Kinder der Babyboomer-Generation ein Wunschkind. Nicht irgendein Wunschkind. Sondern das sinnstiftende, die Ehe reparierende Wunschkind. Meine Mutter wollte Kinder. Davon hing alles ab. Und dann kam ich. Der Sinn, dem alles andere untergeordnet wurde.

Caroline Rosales, geboren 1982 in Bonn, ist Autorin mehrerer Sachbücher, arbeitet als Redakteurin der Funke-Zentralredaktion in Berlin und ist Kolumnistin der "Berliner Morgenpost". Sie schreibt hauptsächlich über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Im Januar 2019 erscheint ihr neues Buch "Sexuell verfügbar" (Ullstein). Sie lebt mit ihren zwei Kindern in Berlin und ist Gastautorin von "10 nach 8". © Aram Pirmoradi

"Warum sollte die kleine Caroline nicht genauso viel wie eine Karriere wert sein?", habe sie sich einmal gefragt. Das erzählte sie mir vor Jahren. Sie fand keine gute Antwort auf die Frage, warum ich nicht das Wichtigste in ihrem Leben sein sollte und blieb zu Hause. Lief mir nach, wischte den Rotz von meiner Kindernase, nahm mich jeden Tag zum Einkaufen mit, backte mir Kirsch-Marzipan-Kuchen, nähte mir rosa-weiß gestreifte Latzhosen mit Schmetterlingen und stickte meinen Namen drauf.

Meine Mutter gehörte zu der Gattung der Helikoptereltern, 20 Jahre bevor es das Wort überhaupt gab. Ich wurde als Kind und Heranwachsende überbehütet, täglich im Auto zur Schule gefahren und abgeholt, frühgefördert, gelobt, vor Fremden und Freunden in Schutz genommen, weil ich für alles beklatscht werden und mich nebenbei frei entfalten sollte, gleichzeitig gehorchen musste und nie alleine war. Wirklich nie. Meinen letzten Babysitter, der mich ins Bett brachte, hatte ich als Teenager, da war ich 14 Jahre alt.

Heute sagen Wissenschaftler, dass Helikoptereltern ihren Kindern schaden. Sie werden von Pädagogen wie dem Kinderpsychiater Michael Winterhoff kritisiert, ihren Nachwuchs zur Unselbstständigkeit zu erziehen. Sie würden Lehrer mit ihren Erwartungen für ihre Zöglinge terrorisieren und ihnen auf diese Weise gute Noten sichern, erklärte der lauteste Kritiker von Helikoptereltern, der Gymnasialdirektor und ehemalige Präsident des Lehrerverbandes Josef Kraus. In der neuen Mocumentary-Serie Andere Eltern des Senders TNT dürfen alle lachen, wenn vier Paare eine Elterninitativ-Kita samt Yoga und Schamane gründen wollen.

Ginge das so weiter, würde sich auch unsere Gesellschaft wandeln, moniert Kraus. "Lebten in ihr eines Tages nur noch gedrillte, verwöhnte, verschonte und überbehütete Menschen, würde dieses demokratische Gemeinwesen nicht mehr funktionieren, weil dann die tragfähige Basis fehlte", sagt er. Meine Familie hätte ihm nicht gefallen.

Wir wohnten in einem grünen bewaldeten Teil des Rheinlandes – Parks, Auen und ein Bauernhof waren in Fahrradentfernung. Alleine durfte ich allerdings nicht dorthin. Wenn meine Schulkameradinnen nachmittags klingelten und fragten, ob Caroline zum Spielen rauskommen könnte, schickte meine Mutter sie wieder weg. "Das geht nicht", sagte sie dann an der Tür. Ich hörte es aus dem Nebenzimmer. Wenn ich wissen wollte, warum ich nicht raus zum Spielen durfte, hieß es, dass unser Garten groß genug sei, dass ich noch Hausaufgaben zu machen hätte, dass ich das Streu des Hamsters wechseln musste, mein Zimmer aufräumen, Geige üben. Mir war nur erlaubt, Dinge im Haus oder im Garten zu tun, bei denen ich mich nicht verletzten konnte.

Der Radius, in dem Kinder sich beim Spielen frei bewegen können, ist extrem geschrumpft. Dazu gibt es eine Studie des Deutschen Kinderhilfswerks. In den Sechzigerjahren konnten sich Kinder etwa zwei Kilometer alleine von ihrem Zuhause wegbewegen, heute beträgt der Abstand 500 Meter. Mein Spielraum damals reichte sogar gerade einmal 100 Meter bis zum Gartenzaun. Als Kind war mir das aber egal. Mein Leben war in Watte gepackt, aber dennoch alles andere als schlecht.