
Lobgesang einer behüteten Tochter Danke Mama, danke Papa
In der ersten Klasse rief mich meine Lehrerin zu sich: Ob ich wirklich schon in die dritte Klasse gestuft werden wolle? Ich nickte. Ein Jahr lang hatten meine Klassenkameraden die Zahlen bis 20 gelernt, lesen und schreiben geübt. Ich verschlang ganze Bücher und schrieb kurze Texte, voller Wut riss ich mir dann nachmittags den Schulranzen von den Schultern: Wieder nichts Neues gelernt!
Also fragten meine Eltern in der Schule, ob ich nicht eine Klasse überspringen könnte. Sie haben sich schon immer in mein Leben eingemischt - und tun das bis heute. Ständig kreisen sie um mich, wollten nur das Beste und noch mehr. Kam ich mit einer Zwei nach Hause, fragte mein Vater: "Warum ist es keine Eins?". Das nervte mich zwar, aber ich hielt es für eine berechtigte Frage, die meinen Ehrgeiz anstachelte.
Wegen der übersprungenen Klasse war ich immer die Jüngste. Als meine Freunde anfingen, die Nächte durchzufeiern, musste ich noch um Mitternacht nach Hause. Einmal riefen meine Eltern an, als ich um 0.30 Uhr in einer Shisha-Bar saß. Ich schaffte es einfach nicht, sie anzulügen. Sie waren von meinem nächtlichen Ausflug maßlos enttäuscht und konnten es nicht fassen. Sie hatten mir doch eine genaue Uhrzeit gesetzt und außerdem schon Zeitungsartikel hingelegt, in denen stand, dass Shishadampf gefährlicher ist als Zigarettenqualm oder Marihuanadunst.
Ich erklärte ihnen, dass alle meine Freunde länger aufbleiben durften und Shisha rauchen zu unserer Freundschaft gehörte. Außerdem schrieb ich doch trotzdem immer gute Noten. Meine Eltern und ich vertrugen uns schnell wieder. Wie immer.
"Ein Winter ohne Heizung? Das macht nicht stark, das ist kalt"
Mit 18 zog ich zu Hause aus. Ich wollte mir erst eine schöne Wohnung suchen und dann die passenden Mitbewohner dazu. Mein Vater begleitete mich zu den Wohnungsbesichtigungen. Ich war froh. Wer hätte mir sonst sagen sollen, dass hier der Nebenkostenpreis zu niedrig angesetzt war und ich würde nachzahlen müssen? Woher hätte ich wissen sollen, dass der kleine blaue Fleck in der Ecke eine Spur von Schimmel ist?
Mein ältester Bruder war damals Hals über Kopf ausgezogen und hockte dann den Winter über in einer Wohnung ohne funktionierende Heizung, dafür aber mit Frost auf der Bettdecke. Das war keine tolle Erfahrung, die ihn fürs Leben gestärkt hat, das war einfach nur kalt.
Anfangs fuhr ich noch an jedem Wochenende nach Hause, meine Mutter backte Weintraubentorte, und ich erzählte von meinem Studium. Jetzt, fünf Jahre später, treffen wir uns alle zwei Wochen und telefonieren alle drei Tage, mindestens. Und als ich fünf Monate lang um die Welt reiste und mich das Heimweh plagte, schrieben wir uns fast täglich Mails. Während die Eltern meiner Kommilitonen gerade noch wissen, wann die nächste Prüfung ansteht, wollen meine erfahren, welche Fragen dran kamen, was ich beantworten konnte, welches Gefühl ich habe und wann es die Ergebnisse gibt.
Mutter-Tochter-Verhältnis wie bei den "Gilmore Girls"?
Vielleicht wäre das manchen zu viel, sie würden sich überwacht fühlen. Aber ich stamme aus einem Vorort von Leipzig, in dem intakte Familien und Eltern, die alles für ihre Kinder tun, normal sind. Mein Freund Christoph zum Beispiel ist 24 und wohnt noch bei seinen Eltern. Sie bezahlen ihm den Flachbildfernseher, die E-Gitarren, die Playstation und die Handyrechnung. Aber er ruht sich nicht darauf aus, sondern hat ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer Schule für Behinderte absolviert und studiert jetzt Sonderpädagogik.
Oder meine Freundin Jenny. Sie ist Einzelkind und nicht nur ihre Eltern, sondern auch Omas und Opas wollten ständig etwas zur Erziehung beitragen. Wir scherzten häufig darüber, dass ihr Vater sie noch als Jugendliche davor warnte, mit nackten Füßen in den Klee zu treten - dort könnten sich ja Bienen verstecken. Jenny studiert jetzt Veterinärmedizin und musste kürzlich ein Praktikum auf einem Schlachthof machen. Ihre Eltern sorgten sich sehr, sie hat es aber gut überstanden.
Jenny, Christoph und ich würden alle drei sagen, dass unsere Eltern in unserem Leben eine Hauptrolle spielen. Jenny und ich haben uns immer ein Mutter-Tochter-Verhältnis gewünscht wie bei den "Gilmore Girls" - und sind dem ziemlich nahe gekommen. Wenn ich mich mit meinem Freund gestritten habe, fuhr ich nach Hause und weinte mich aus. Bevor ich eine Bewerbung abschicke, korrigiert meine Mutter die Rechtschreibfehler. Und wenn ich einen Artikel schreibe, frage ich meinen Vater, wie er ihn findet.
Klar, auch ungefragt teilen mir meine Eltern ständig mit, was sie über mein Leben denken. Und, ja, manchmal stört mich das. Aber dieser Anflug von Genervtheit ist nichts gegen die Vorstellung, dass meine Eltern irgendwann nicht mehr da sein werden.