Nr. 16/2020 vom 16.04.2020

Die Lücken des marktorientierten Gesundheitssystems

Mit dem Coronavirus verschärft sich eine internationale Gesundheitskrise, die schon länger bestand. Anne Jung, Sprecherin für globale Gesundheit bei Medico International, über die Situation in den Ländern des Südens.

Interview: Merièm StruplerMail an AutorIn

Anne Jung, Medico International

WOZ: Frau Jung, in der Coronakrise findet die Situation in der Schweiz, Europa und den USA eine hohe Aufmerksamkeit. Vergessen wir den Globalen Süden?
Anne Jung: Die Situation ist neu für uns alle. Es ist verständlich, dass die verunsicherte Bevölkerung, die zum Teil selbst in eine prekäre Lage gerät und sich um Freunde und Angehörige sorgt, zunächst ihren Blick nicht weiten kann. Dennoch: Die Eindämmung der Pandemie kann nur mit einer globalen Anstrengung gelingen. Das ist vor allem Aufgabe der Politik. Diese betont zwar derzeit die Notwendigkeit von «Solidarität», aber bei genauerem Hinsehen haben wir es oft nur mit einer national gedachten Solidarität zu tun.

Wie könnte eine globale Solidarität aussehen?
Bereits bei den Schutzmassnahmen muss es um Verteilungsgerechtigkeit gehen: Wie werden vorhandene Mundschutze und Desinfektionsmittel verteilt? Im schwer betroffenen Italien zum Beispiel kam erste ärztliche Hilfe aus Kuba, während Deutschland zunächst ein Exportverbot für medizinische Hilfsmittel verhängt hatte. Das muss sich ändern. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) muss in ihrer Bedeutung für die globale Gesundheitspolitik von den Mitgliedstaaten gestärkt werden und die Verteilung von Schutzmitteln entlang der Bedürfnisse organisieren. Das gilt umso mehr, wenn ein Medikament und ein Impfschutz gegen Covid-19 entwickelt werden. Nur: Der WHO fehlt es genauso an Geldmitteln wie der von der Staatengemeinschaft kaputtgesparten Uno. Diese hat kürzlich einen «Globalen humanitären Plan» für die Länder des Südens vorgeschlagen und muss nun um die Bereitstellung der Mittel regelrecht betteln.

Was sind die spezifischen Probleme im Süden?
Es existierte bereits vor Corona eine internationale Gesundheitskrise – weltweit sterben jährlich 1,3 Millionen Menschen an Tuberkulose, eine halbe Million an Malaria. Diese Situation wird sich nun noch massiv verschlechtern, wenn durch Covid-19 die Behandlung von anderen Krankheiten nicht mehr gewährleistet ist. Die Lage im Süden ist generell sehr viel existenzieller als im Norden. Physische Distanzierung ist vielerorts nicht möglich, Schutzmaterial für arme Menschen fast nicht vorhanden, auch der Zugang zu sauberem Wasser häufig nicht gegeben. Ein Grossteil der Menschen hat keinerlei finanzielle Reserven, die Ausgangssperren bringen sie in existenzielle Notlagen. Dennoch ist es wichtig, die Situationen nicht zu monokausal zu beschreiben.

Wie meinen Sie das?
In einigen afrikanischen Ländern, wie in Ruanda, wurden sehr früh Präventionsmassnahmen ergriffen. Durch die Erfahrung mit vergangenen Epidemien haben die Frühwarnsysteme besser funktioniert als in Europa. In vielen Ländern des Globalen Südens wie dem Libanon, Brasilien oder Südafrika sind es zivilgesellschaftliche Akteure, die die Bevölkerung bestmöglich aufklären und zugleich von der Regierung ein verantwortungsbewusstes Handeln einfordern. Eine zentrale Forderung ist, dass die viel besser ausgestatteten privaten Krankenhäuser für die Notversorgung aller geöffnet werden sollen. Auch die Community Health Workers, die vielerorts die Lücken des maroden öffentlichen Gesundheitssystems abfedern und die lokale Basisversorgung in den ärmsten Vierteln übernehmen, streiten für bessere Arbeitsbedingungen.

Ist auf globaler Ebene auch die nun anrollende Wirtschaftskrise bereits spürbar?
Die Wirtschaftskrise ist dem Ausbruch von Corona vorgelagert. Dies aufgrund der Abhängigkeiten des Globalen Südens entlang der Lieferketten. In den europäischen Innenstädten wurden die Kleidergeschäfte geschlossen, die Konzerne stoppten ihre Aufträge und holten bereits bestellte Waren nicht mehr ab. In Pakistan und Bangladesch sind deshalb Hunderttausende von einem Tag auf den anderen arbeitslos geworden und ein ganzer Wirtschaftssektor zusammengebrochen.

Die Coronakrise bringt auch in Europa Dinge zum Vorschein, die sonst vor allem aus dem Globalen Süden bekannt sind – in Süditalien hungern Menschen.
Es gibt im Globalen Norden zunehmend Zustände, die wir normalerweise aus dem Süden kennen. Im Libanon hat die reiche Oberschicht besten Zugang zu Hightechmedizin, während die Mehrheit auf die miserabel ausgestattete öffentliche Gesundheitsstruktur angewiesen ist. Solche Sphären des Globalen Südens breiten sich zusehends auch in Europa aus. Als Folge der Austeritätspolitik ist es kein Zufall, dass gerade Italien und Griechenland stark von Corona betroffen sind.

Inwiefern?
Durch die erzwungenen Sparmassnahmen der EU nach der Staatsschuldenkrise in Italien und Griechenland wurde die Gesundheit von Millionen gefährdet. Krankenhäuser wurden privatisiert, die öffentliche Gesundheitsversorgung abgebaut – das hatte schon damals dramatische Folgen: Die Menschen sind an heilbaren Krankheiten gestorben, weil sie die Medikamente nicht mehr bezahlen konnten oder die Krankheiten viel zu spät erkannt wurden. Die aktuelle Situation muss als Folge solcher Fehlentscheidungen gesehen werden.

Wie können die Gesundheitssysteme neu organisiert werden?
Der nach Profitinteressen umgebaute Gesundheitssektor ist immer weniger am Bedarf der Bevölkerung orientiert. Das gilt für Kenia genauso wie – in abgeschwächter Form – für Deutschland. Die Gesundheit muss als öffentliches Gut zurückerobert werden. Dazu gehört auch der Patentschutz: Weder die Forschung noch die Produktion von Arzneimitteln dürfen dem Markt unterworfen werden. Das Problem ist: Ähnliches fordert im Moment sogar der französische Präsident Emmanuel Macron.

Was ist denn daran ein Problem?
In der Pandemie kommen die Lücken des marktorientierten Gesundheitssystems auf tödliche Weise zum Ausdruck. Deswegen ist es gerade sehr populär, öffentlich Kritik daran zu äussern. Wir haben aber sowohl nach der Ebola-Epidemie 2014 in Westafrika als auch nach der Finanzkrise 2008 erlebt, dass sehr viele Ankündigungen – wie der Aufbau von flächendeckenden Gesundheitssystemen oder die bessere Kontrolle der Finanzmärkte – schneller zurückgeschraubt wurden, als wir bis drei zählen konnten. Darum brauchen wir Strategien, damit es für die Regierungen schwieriger wird, solche Ankündigungen gleich wieder zu kassieren. Das funktioniert nur mit öffentlichem Druck.

Was können wir aus vergangenen Epidemien wie Ebola für die Zukunft lernen?
Flapsig formuliert könnte man sagen: Egal was die Frage ist, die Antwort lautet immer: Gesundheitssysteme stärken! Bei Ebola hat es dramatisch lange gedauert, bis die Krankheit überhaupt erkannt wurde. Hätte es in den ländlichen Regionen eine funktionierende Gesundheitsversorgung gegeben, hätte sich aus dem Ausbruch keine Epidemie entwickeln können. In Sierra Leone, einem Land mit fünf Millionen Einwohnern, arbeiten nach wie vor weniger Ärztinnen und Ärzte als an der Frankfurter Uniklinik. Es ist wie in der Klimapolitik: Wir können uns nicht leisten, den falschen Weg weiterzugehen.

Anne Jung (50) ist Politikwissenschaftlerin und Sprecherin für globale Gesundheit bei Medico International. Sie arbeitet seit zwanzig Jahren für die Hilfs- und Menschenrechtsorganisation und lebt in Frankfurt.

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