Gastkommentar

Soziale Distanzierung kann tödlich sein

Social Distancing ist zu einem beinahe überall anzutreffenden Handlungsanspruch geworden: Szene in einer U-Bahn in Madrid.

Social Distancing ist zu einem beinahe überall anzutreffenden Handlungsanspruch geworden: Szene in einer U-Bahn in Madrid.

Ein Gastkommentar von Benjamin Scharte über die Wichtigkeit, in der Krise miteinander in Verbindung zu bleiben.

Alle haben es nun schon gelernt: Um eine unkontrollierte Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern, müssen wir voneinander Abstand halten. Erste Erfolge dieser Strategie stellen sich langsam ein. Ob diese von Dauer sein werden, hängt nicht zuletzt davon ab, ob wir das Richtige, was wir tun, auch auf den angemessenen Begriff bringen. Die richtigen Worte zu finden, ist in einer Krisensituation fast ebenso bedeutsam, wie die richtigen Massnahmen zu treffen.

Deshalb muss klar sein, was mit Abstand halten genau gemeint ist. Social Distancing (soziale Distanzierung) ist zu einem beinahe überall anzutreffenden Handlungsanspruch geworden. Soziale Distanzierung ist aber nachgerade das Gegenteil dessen, was jetzt notwendig und sinnvoll ist. Warum ist das so?

In der Katastrophenforschung gibt es den Begriff der sozialen Resilienz. Damit ist die Fähigkeit von Gesellschaften gemeint, mit extremen Ereignissen – etwa einer Pandemie – erfolgreich fertig zu werden, sie möglichst gut und langfristig unbeschadet zu überstehen. Die Forschung zu diesem Thema hat eindeutig gezeigt, dass soziale Resilienz immer dann sehr ausgeprägt ist, wenn die betreffenden Gesellschaften über ein grosses Mass an Sozialkapital verfügen. Damit sind enge soziale Bindungen gemeint.

Zur Person

Benjamin ScharteDer Autor leitet das Team «Risiko und Resilienz» im Think Tank des Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich.

Benjamin Scharte

Der Autor leitet das Team «Risiko und Resilienz» im Think Tank des Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich.

Sozialkapital bildet sich durch persönliche Netzwerke, in denen gegenseitiges Vertrauen wächst: Menschen arbeiten zusammen, sind Mitglieder in lokalen Vereinen, unterstützen sich gegenseitig und lernen sich so kennen und schätzen. Sozialkapital ist wesentlich für das Funktionieren von Gesellschaften. Das gilt im Normalfall, aber noch viel mehr gilt es in Krisenzeiten. Beispielsweise konnte nachgewiesen werden, dass japanische Gemeinden, die über ein grösseres Mass an Sozialkapital verfügen, besser mit den Auswirkungen des Tōhoku-Erdbebens und des anschliessenden Tsunamis im März 2011 fertig wurden. Sie wiesen im Schnitt höhere Überlebensraten auf und erholten sich schneller als Gemeinden mit geringerem Sozialkapital.

Dies zeigt: Soziale Distanzierung kann tödlich sein. Das gilt auch in der Coronakrise. Es kann nicht darum gehen, dass Menschen sich sozial und emotional voneinander entfernen. Es geht vielmehr um physische Distanzierung, um das körperliche Voneinander-Abstand-Halten. Dieser Abstand wird in Metern gemessen.

Auch internationale Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) plädieren mittlerweile dafür, von Physical Distancing statt von Social Distancing zu sprechen. Die Idee scheint auf den ersten Blick trivial. Sie zu befolgen, ist jedoch gar nicht so einfach, wenn Enkel ihre Grosseltern nicht mehr besuchen sollen, man das Haus nur noch zur Arbeit und zum Einkaufen verlassen soll und das Vereinsleben in der ganzen Schweiz brachliegt. Aber es gibt Alternativen. Moderne Kommunikationstechnologien bieten vielfältige Möglichkeiten.

Einige haben beispielsweise begonnen, digitale Abendessen mit Freunden aus der ganzen Welt zu veranstalten. Sie treffen sich zu digitalen Kaffeepausen, um gemeinsam vor dem Bildschirm zu meditieren oder die neueste Folge ihrer Lieblingsserie zu diskutieren, während sie sie auf dem zweiten Bildschirm anschauen. All das war auch vor der Krise möglich. Es ist aktuell nur einfach sehr viel wichtiger geworden, um sozial und emotional miteinander in Verbindung zu bleiben.

Selbiges gilt auch für kreative Ideen ausserhalb des digitalen Raums, etwa das gemeinsame Applaudieren vom Balkon aus, mit dem den Beschäftigten im Gesundheitswesen gedankt wird. In der Schweiz gibt es aktuell sehr viele Initiativen, sowohl digitaler als auch analoger Art, bei denen Bürgerinnen und Bürger sich einbringen, um sich gegenseitig zu helfen und emotional zu unterstützen. Auch das zeigt die Katastrophenforschung deutlich: In Krisen steigen Engagement und Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander.

All das sind Beispiele gelebter sozialer Resilienz. Menschen sind in der Lage, sich an dramatische Ausnahmesituationen mit Hilfe von viel Flexibilität und Einfallsreichtum anzupassen. Diese Art von Resilienz hilft der Gesellschaft und jedem Einzelnen dabei, die Coronakrise mental und psychisch besser zu überstehen. Deshalb ist es unbedingt notwendig, Abstand voneinander – in Metern – zu halten, aber sozial und emotional eng verbunden zu bleiben.

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