Gibt es draußen eigentlich noch Leute, die nicht ihre eigene Identität beschwören, für irgendwelche Identitäten demonstrieren – oder über die Identitätspolitik der anderen schimpfen? Wo immer das Wort Identität in der Öffentlichkeit fällt, ob im Feuilleton, in den sozialen Medien oder an den analogen Stammtischen, fliegen sogleich die Fetzen. "Heimat", "Gender", "LGBTIQ*" oder "alter weißer Mann" – wer sich oder andere identifiziert, bekommt sofort volle Aufmerksamkeit.

Egal, wogegen oder wofür da gestritten wird, ob es um kulturelle, persönliche oder geschlechtliche Identität geht: Jeder meint mitreden zu können und zu müssen. Denn Identität heißt: Es geht da irgendwie total um mich, um "meins" und "unseres" – und sei es nur, indem andere "ihres" zu stark betonen. Alles klar? Nein. Denn wo immer jener Begriff explizit oder implizit auftaucht, liegt der Fokus hauptsächlich auf dem Drumherum: der jeweiligen Rhetorik, der jeweiligen Argumentation, dem jeweiligen Konflikt. Es ist immer der Kontext, der heiß debattiert wird. Der Begriff selbst bleibt dagegen im Dunklen.

Das Wort Identität, wie es in aktuellen Debatten auftaucht, ist ein US-amerikanischer Import. Die Karriere des Begriffs begann im Deutschland der Neunzigerjahre, als aus identity politics "Identitätspolitik" wurde. Zuvor hatten sich in den USA im Zuge der Bürgerrechtsbewegung vermehrt Gruppen auf Basis des individuellen Selbstverständnisses ihrer Mitglieder zusammengefunden – und nicht mehr mit Blick auf einen universalistischen Standpunkt. "Meins" statt Marx, sozusagen. "Women Studies", "Black Studies", "Gay Studies", "Queer Studies", "Holocaust Studies", "Postcolonial Studies", "Trauma Studies", "Memory Studies" etc. entstanden. Politisches und Persönliches vermischten sich – und der akademische Kontext schwappt bis heute regelmäßig über auf den gesellschaftlichen Diskurs.

Man kann die aktuelle identitätspolitische Szenerie so mit einem Reality-Game vergleichen, das auf zwei Ebenen gespielt wird: Auf der einen Ebene steht das "Team Praxis"; auf der anderen, der Meta-Ebene, das "Team Theorie". Die Praktiker, das sind Politikerinnen, NGOs, Wutbürger, Demonstrantinnen jeder Couleur. Die Theoretiker, das sind die Intellektuellen, die Akademikerinnen, die in ihren Denkkapseln immer neue Varianten des Identitätsthemas ersinnen und diese via Feuilleton und Social Media verbreiten. Aufgabe beider Teams ist es, den Ball – die "Identität" – im Spiel zu halten. Das Perfide an diesem Spiel ist es, dass das Team Theorie auch als Entwickler des Spiels fungiert. Denn es sind die Theoretiker, die den Identitätsbegriff vom hohen Thron der Meta-Ebene aus ständig pimpen, updaten und upgraden, neue Zuschreibungen einführen und alte für überholt oder gar diskriminierend erklären. Die Praktiker sind den Entwicklern insofern hörig, als sie den Ball immer wieder aufnehmen – man möchte ja auch in der neusten Version des eigenen Lieblingsspiels zurechtkommen. So halten sie es am Laufen.

Zugleich ist der Kernbegriff unhinterfragbar. Identität ist alles. Ich. Meine Werte und meine Rechte. Das, was (zu) mir gehört. Was ich bin oder sein will. Wovon ich überzeugt bin, weil ich es einfach weiß. Wofür ich anerkannt und entschädigt werden muss. Identität ist eine riesige Sprechblase, die immer größer wird, je mehr Leute sich am Spiel beteiligen: Identität ist Heimat ist Hautfarbe ist Geschlecht ist sexuelle Orientierung ist Kultur ist Herkunft ist Familie ist Nation ist Tradition ist Integration. Was ist Identität? Die Antwort kann nur tautologisch sein ("Identität ist Identität"). Identität ist, wie der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli konstatiert, entsprechend ihrer lateinischen Wortwurzel idem "die Permanenz desselben". Identität ist auch etwas, das Immanuel Kant ens rationis nannte, einen "leeren Begriff ohne Gegenstand".

Wenn nun heute Theoretikerinnen so tun, als sei Identität eine logische Kategorie, eine Lebensform oder ein Sprachspiel, dessen Regeln von allen Mitspielern verstanden und geteilt werden können, tatsächlich aber darauf verzichten, den Begriff, seine jeweiligen Konnotationen und möglichen Verwendungsweisen kontextbezogen zu klären und zu legitimieren, sprechen sie das, was Ludwig Wittgenstein eine "private Sprache" nannte. Eine Sprache, deren Wörter sich "auf das beziehen, wovon nur der Sprechende wissen kann; auf seine unmittelbaren, privaten Empfindungen". Nicht selten tadeln vermeintlich aufgeklärte undogmatische Intellektuelle aus dem Team Theorie Angehörige aus dem Team Praxis, dass deren Rede vom ganz besonderen Eigenen nicht mehr als verwaschenes Geschwurbel sei. Aus philosophisch-wittgensteinscher Sicht muss man den Theoretikern vorwerfen: dass sie selbst gern so tun, als wäre für alle klar und zugänglich, was sie ihrerseits mit dem Begriff Identität meinen.