Endstation Unterlüß! BILD-Reporter
verbringt Nacht im ICE

Unterlüß – Wie kann es sein, dass 300 Menschen trotz Orkan mittags in den ICE nach München steigen? Weil alle sich auf die Bahn verlassen. Weil keiner glaubt, dass sowas passiert. Ich auch nicht. Mein Horrortrip von Hamburg nach Hannover.

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Donnerstagmittag am Hamburger Hauptbahnhof. ICE 1189 nach München fährt pünktlich ein, rund 300 Menschen drängen mit Kind und Kegel in den Zug.

Eine ältere Dame fragt den Zugbegleiter: „Wird das denn gut gehen mit dem Sturm?" Antwort: „Na klar." Eine Stunde später rollen wir in einen kleinen Dorfbahnhof in der Nordheide.

Endstation Unterlüß!

Erste Durchsage 14 Uhr: „Auf Grund von Sturmschäden ist der vor uns liegende Streckenabschnitt gesperrt."

Na und? Erfahrene Bahnfahrer kennen solche Durchsagen. „Ne Stunde, dann gehts weiter", prognostiziert Programmierer Martin aus Fürth. Immerhin das WLAN funktioniert, wenn auch schwach.

Drei Stunden und zwei Durchsagen später ist die Situation deutlich angespannter. Zwei Klos sind gesperrt, das ICE-Peronal ist ratlos: Niemand weiß, ob es weitergeht.

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Wann gibt es Freigetränke? Wird evakuiert?

Keine Antwort. Im Bord-Bistro klingelt die Bahnkasse. Der Wut und Frust-Pegel steigt, als sich ein Zugbegleiter sein zweites Bier gönnt: „Gehen sie endlich rum und versorgen die Senioren mit Mineralwasser."

Dann die Durchsage, die alles verändert: „Im Ort gibt es einen Netto Supermarkt. Es dauert hier noch länger. Wer will kann raus."

Entsetzen in ICE 1189. Die Handys glühen, Termine werden abgesagt. Preise für Taxis und Hotels eingeholt. Daniela Meibohm aus Goslar: „Unfassbar. Wir werden zum Einkaufen geschickt. Was für ein Armutszeugnis."

Durchsage: „Die Vollsperrung besteht weiter. Wir wissen nicht, ob oder wann es weiter geht."

Bernd Probst (71) aus Osterode: „Die haben uns vergessen. Nicht mal Feuerwehr oder THW sind da."

Es wird dunkel in Unterlüß. Wie ein Geisterzug ruht der ICE. Regen peitscht gefühlt aus allen Richtungen über den Bahnsteig.

Im Zug herrscht Kater-Stimmung.Die ersten Kinder schlafen. Das ständige Gepiepe der sich öffnenden und schließenden Türen macht mürbe.

Durchsage: „Die Vollsperrung bleibt." Gute Nacht in Unterlüß.

20.15 Uhr. Das jüngste Gerücht: Heimlich still und leise hat das Bordbistro auf Freibier umgeschaltet. Einem Rentner platzt der Kragen: „Warum sagen die das nicht durch?"

Das Glück am Bahntresen währt nur zwei Stunden. Dann rattern die Rollläden im Bistro runter. Schotten dicht. Jetzt kommt es auf die letzten Netto-Reserven an.

Mitternacht. Am verwaisten Bordbistro liegen Klopapierrollen zur freien Verfügung bereit.

2 Uhr. Die letzte Durchsage ist drei Stunden her, das Bier ist alle. Jetzt wird's kritisch. 180 Menschen verbringen die Nacht an Bord.

9 Uhr. Busse fahren vor. Die Evakuierung Richtung Hannover beginnt.

Tschüs, Unterlüß.

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