Es gibt zwei Orte, an denen man als Kind auf Reisen garantiert nie etwas gegessen hat. Französische Autobahnraststätten („Ist ja nicht mehr weit zum Logis-de-France-Hotel, dann gibt es ein Steak Haché, original französisch,“) und im Bordbistro des ICE.
Waren die Eltern reich, durfte man dort nicht essen, weil es zu schäbig war. Außerdem fahren richtig reiche Menschen nicht Bahn. Waren die Eltern gebildeter Mittelstand, dann haben sie auf die Kulturlosigkeit des Essens dort geschimpft und triumphierend ein Glas Oliven der vermeintlichen Feinkost-Firma Kattus auf den Tisch gestellt, dazu Grissinis von Jacque’s Weindepot gereicht und irgendein Buch von Umberto Eco gelesen, während die Kinder von Chicken Nuggets und Spaghetti im Bordrestaurant geträumt haben. Und waren die Eltern arm, dann nahm man selbst geschmierte Stullen mit, weil das Essen im Bordbistro zu teuer war.
Seit ich alleine Bahn fahren darf, versuche ich über das Kindheitstrauma hinwegzukommen. Mit Zwiebelgulasch, Schnibbelbohneneintopf und Thunfischsalat – bei 250 Stundenkilometer quer durch Deutschland.
Zwiebelgulasch von Horst Lichter, April 2014, Saarbrücken–Berlin:
Auf der Rückfahrt von einer Ausstellungseröffnung in Saarbrücken. Meine hochgeschätzte Reisebegleitung hat Hunger. Es ist ein kalter Abend Anfang April. Draußen ist es schon dunkel, als der jugendliche Restaurant-Steward mit dem funkelnden Ohrring anmerkt, dass eine Gruppe Nazi-Hooligans sowohl Fass- als auch Flaschenbier leer getrunken hätte.
Dann eine Adelholzener Apfelschorle und das Zwiebelgulasch bitte. Meine Begleitung wählt den Thunfischsalat. Die Hooligans haben zu dieser Zeit den Islam noch nicht als Feindbild entdeckt. Sie stimmen ein Lied von Landser an, das aus dem Bordbistro – das ist der Stehbereich vor dem Restaurant, mit Bistrotischen, deswegen der Name – hinüber zu den sitzenden Gästen schallt.
„In Rostock und Hoyerswerda – la, la, la, la, la/ Und bald im ganzen Land/ Da kämpfen deutsche Skinheads – la, la, la, la, la/ Mit dem Molli in der Hand/ und das Asylheim brennt“. Der Steward beruhigt die sichtlich eingeschüchterten Gäste des Restaurants, als er die Getränke serviert. „Die sind eigentlich ganz friedlich und geben gutes Trinkgeld“, sagt er. Das Zwiebelgulasch ist essbar. Es gibt dazu Thüringer Klöße. Der Fernsehkoch Horst Lichter hat sich gerade Gerichte aus dem Osten für die Bahn ausgedacht. Das ganze Jahr über gibt es für drei Monate immer Gerichte aus dem Süden, Norden, Westen und gerade jetzt aus dem Osten Deutschlands. Zehn Cent gehen pro Gericht an ein Waldprojekt. Und Horst Lichter kriegt bestimmt auch was ab.
Mit Schmorgerichten kann man jedenfalls nichts falsch machen. Weil man das Gericht eigentlich nicht verkochen kann. Außer man schmort es zu kurz. Das Fleisch ist an einigen Stellen ein wenig zu fettig. Aber nicht zäh. Die Klöße sind heiß und dampfen und schmecken zur allgemeinen Überraschung nach Kartoffeln. Die Sauce, gut, sie schmeckt etwas nach Convenience-Sauce mit Hefeextrakt, aber grundsätzlich ist das nicht schlimmer, als in einem Thüringer Wirtshaus.
Meine Begleitung sagt, sie müsse im Angesicht der Hooligans an „Schrei nach Liebe“ von den Ärzten denken, und, dass sie die Ärzte doof finde, aber glaube, dass so eine Lebenseinstellung tatsächlich etwas damit zu tun habe, Liebe zu suchen. „Liebe“, mischt sich ein älterer Herr gegenüber ein, „heißt ein warmes Gefühl im Bauch zu haben, wenn man weiß, da wartet jemand auf einen.“ Als der Zug in Hildesheim hält, steigen die Nazis aus. Einer von ihnen fragt uns noch, ob wir verliebt seien. Ohne die Antwort abzuwarten, lächelt er und sagt, verliebt sein, ist gut. Draußen auf dem Bahnsteig wartet schon eine Hundertschaft auf ihn und seine Freunde.
Maultaschen von Horst Lichter, Mai 2014, Berlin–Hamburg:
Auf der Karte des Bordbistros steht: „Da verwundert es nicht, dass Maultaschen auch als ‚Herrgottsbescheißerle‘“ bezeichnet werden. Und Heinz Hormann, der berühmte Gastrokritiker, der natürlich niemals im Bordrestaurant essen würde, würde die Augenbraue hochziehen.
Nun, die Maultaschen, es sind zwei große, werden in einer Brühe serviert, nicht viel, vielleicht drei Esslöffel, die über die Maultaschen drüber gegossen wurden. Speck ist auf dem Teller und etwas Lauch, der natürlich nicht so grün aussieht, wie auf dem Foto der Speisekarte. Am Nebentisch moniert gerade ein ziemlich erfolgloser Handlungsreisender (man erkennt es an den abgekauten Fingernägeln und dem C&A-Sakko) die Frische seines Salates. „Das soll knackfrisch sein, mein Gutester“, fragt er. „Wir können ihnen gerne einen neuen bringen“, versucht der Steward zu schlichten.
Der Süden wird von Lichters Deutschlandreise gerade vermessen. Deswegen Maultaschen. Es gibt noch Schweinebraten mit Kartoffeln und Kraut sowie Rahmschwammerl mit Semmknödel. Gaisburger Marsch übrigens auch. Die Maultaschen dampfen. Der Teig schmeckt nach Stärke, die Brühe, schon wie die Sauce des Zwiebelgulaschs nach Hefeextrakt, so teigig trocken, etwas zu salzig. Und während der Handlungsreisende gerade seine Frau belügt „Schatz, es war gigantisch in Berlin. Sie haben gleich fünf gekauft. Von der Provision habe ich eine Überraschung für Dich. Freu’ mich. Schmatzer von mir“ und er das vierte Bier bestellt, muss man an Karl Schmidt aus dem Roman von Sven Regener denken. „Die Dehydrierung ist der größte Feind des Trinkers“, hat er gesagt und „Denkt an die Elektrolyte“. Unter dem Gesichtspunkt sind die Maultaschen nämlich noch viel besser.
6 Nürnberger Rostbratwürstchen mit Kartoffelsalat, August 2014, Köln–Berlin:
Man muss wissen, dass im Bordrestaurant der ICEs keines der angebotenen Gerichte wirklich zubereitet wird. Man denkt ja, hört man Bordrestaurant, immer an Köche in weißen Uniformen und mit Mützen, die im Orientexpress für den Archäologen an Tisch 3 Austern Rockefeller zubereiten und für die junge Schönheit, die ihm schmollende Blicke zuwirft, gerade eine Banane flambieren. In den Bordrestaurants der Bahn aber werden vakuumierte, bereits vorgekochte Speisen lediglich erwärmt.
Das merkt man den Bratwürsten an, die an diesem Nachmittag serviert werden. Ihnen fehlt tatsächlich ein wenig Bratfett und der Darm ist auch nicht mehr knusprig, sondern weich. Senf wird zunächst nicht mitgebracht. Auf Anfrage aber – „selbstverständlich, der Herr“ – an den Platz gebracht. Der Volmer Weißburgunder hat eine leichte Süße. Angenehm an einem Nachmittag im Sommer. Ein bisschen Pfirsich, meint man zu schmecken, ein Pfirsich wie aus einem Lipton-Ice-Tea.
Der Kartoffelsalat ist eindeutig zu kalt. Etwas über null Grad Celsius. Die Kartoffeln sind bissfest. Die Gurken grün. Das Dressing etwas zu sauer. Ein seltsames Paar betritt das Bordbistro. Ein persischer Prinz mit einem Krummsäbel, sowie eine Prinzessin. Als die beiden zwei Weißbier bestellen, und man den Pass mit „Gamescom“ um ihren Hals baumeln sieht, ist der Traum vorbei. Es sind zwei Cosplayer, die auf der Computerspielemesse waren. Dabei hätte man so gerne mit ihnen eine flambierte Banane gegessen.
Hähnchenbrust mit Senfsoße, mit Mangoldgemüse und Buchweizentaler von Horst Lichter, Dezember 2014, Berlin–München:
„Ein Bierchen schon mal für den Herren?“, fragt die junge Frau vom Servicepersonal, als sich der Gast setzt. „Ein stilles Wasser, Tee und die Hähnchenbrust, bitte“, antwortet der Gast. „Sachen gibt’s“, sagt die Frau, nachdem sie die Bestellung aufgenommen hat und schüttelt den Kopf. Und weil der Tomatensafteffekt so wunderbar funktioniert, bestellt sich einer am Nebentisch auch die Hähnchenbrust. Und, weil die Dame so nett gefragt hat, auch noch ein Bierchen.
Die Hähnchenbrust ist von einer braunen, nicht knusprigen Panade bedeckt. Vielleicht Parmesan? Analog-Parmesan? Geschmacklos, aber nicht schlecht schmeckend. Es schmeckt halt nach nichts. Das Huhn ist trocken. Die Senfsauce ist süß, ein Senfgeschmack ist von weitem zu erahnen. Die Buchweizentaler, so stellt man sich Styropor vor, kleine Kügelchen aus braunem, erdigen, nach Buchweizen schmeckendem Styropor. Und die sind wiederum mit Zellstoff zu Talern geklebt. Wirklich gelungen hingegen ist das Mangoldgemüse. Wer Mangold nicht kennt, der denkt jetzt an einen Spinat, der von der Struktur her kräftiger ist. Richtiger Spinat, nicht der Blubb-Spinat – und etwas würziger und erdiger schmeckt.
Als der Gast seinen Tee ausgetrunken und das Hühnchen aufgegessen hat, beginnt er, mit rotem Stift auf Papier zu schreiben. Ein Lehrer vermutlich. Es sieht nach Physik aus. Nach Mathe. Zahlen. Ziffern. Und einige Graphen. Er schaut mit seiner randlosen Brille auf das Blatt, kratzt sich am Kopf, lässt den Rotstift flitzen. Er kommt richtig in Rage. Haut mit der Faust auf den Tisch. Streicht etwas mit großer Geste durch. „So ein Schwachkopf“, sagt er. Die Frau vom Servicepersonal kommt wieder. Sie setzt zu einer Frage an. „Möchten Sie …“ Unser Lehrer schaut auf und unterbricht sie: „Jetzt nehm’ ich auch ihr Bierchen, junge Dame.“