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Von Sylt nach Hofheim : Höllenritt im ICE

Volle Pulle: Aber manche Fahrt mit dem ICE verläuft nicht so glänzend. Bild: dpa

Es ist viel zu heiß, zu eng und die Fahrt wird zur Tortur: Eine Bahnreise von Sylt in den Main-Taunus-Kreis zeigt schmerzlich, was beim Reisen alles schiefgehen kann.

          3 Min.

          Der Tag auf Sylt beginnt freundlich. Die Sonne scheint, die vier alten Freunde, die an diesem Sonntag mit dem Auto ins Münsterland zurückfahren werden, bringen mich zum Bahnhof in Westerland. Vor mir liegen planmäßig acht Stunden und 14 Minuten bis nach Hofheim im Main-Taunus-Kreis. Die Karte habe ich im März gekauft, erste Klasse mit Sitzplatzreservierung bis Frankfurt. Das Wochenende war klasse, meine Laune ist bestens. Das wird sich ändern. Denn es wird so ziemlich alles schiefgehen, was während einer Bahnfahrt schiefgehen kann. Auch deshalb nutze ich Züge für weite Strecken längst nicht mehr so oft wie früher – obwohl ich Bahnfahren ökologisch richtig finde. Der IC 2311 soll Westerland auf Sylt um 9.26 Uhr verlassen. Er wird später losfahren, aber das weiß ich noch nicht, als ich meinen Platz suche. Vergeblich. Denn der IC ist ein „Ersatzzug“. Warum, erfahre ich bis zum Zwischenziel in Hamburg nicht.

          Tobias Rösmann

          Redakteur in der Rhein-Main-Zeitung.

          Der Zugbegleiter, den ich mehrmals anzusprechen versuche, scheint vor mir davonzulaufen. Wenn er mich sieht, hält er schnell sein Handy ans Ohr. Ich habe grundsätzlich nichts gegen Ersatzzüge. Der Nachteil ist bloß, dass die Wagennummern nicht stimmen. 14 folgt auf zwölf, in dem sich auch eine Tafel mit einer „Acht“ darauf findet. Handgemalt. Eine alte Frau schleppt sich den ganzen Zug entlang und setzt sich dann kopfschüttelnd neben mich. Immerhin gibt es in der ersten Klasse, in der keine Reservierungen vorgenommen wurden (Ersatzzug ohne Ersatzreservierungen), noch freie Plätze. Am Fenster sitzen zwei Herren, deren IC am Vorabend ausgefallen ist (kein Ersatzzug). Sie haben eine weitere Nacht im Hotel verbracht. Natürlich gibt es bis Hamburg weder Kaffee noch Wasser (Ersatzzug, aber kein Ersatzbordbistro).

          Wir rollen los. Schon jetzt wird der Anschluss in Hamburg knapp, der, so dachte ich naiverweise, bei 17 Minuten Aufenthalt ohne Gleiswechsel zu schaffen sein müsste. Kurz nach dem Hindenburgdamm halten wir. Meine Freunde sehe ich in diesem Augenblick wieder: Ihr Autozug ist um 10 Uhr losgefahren und überholt uns gerade. Der IC steht in Niebüll, weil Waggons angehängt werden. Als sie dranhängen, wird geprüft, ob sie drangehängt werden durften. Das dauert. Ich stelle mir zum ersten Mal die Frage, warum ich nicht geflogen bin. Bis nach Hamburg reihen sich kleinere Stopps aneinander. Der IC hat mittlerweile so viel Verspätung, dass er den Plan anderer Züge durcheinanderbringt. In Itzehoe werden die Dieselloks abgehängt und durch elektrisch betriebene Zugkräfte ersetzt – im IC ist von Zugkräften trotzdem nichts zu spüren. Als ich eine Dame von der Bahn anspreche, die in einem Abteil ein Buch liest, will sie mir helfen. Aber die Bahn-App, die ich auch selbst aufrufen kann, funktioniert nicht: kein Internet.

          Von Wut zu Resignation

          In Hamburg ergießt sich die Zugladung auf den Bahnsteig. Kein Durchkommen mehr. Der ICE 679, Abfahrt 13.01 Uhr, ist längst weg. Der nächste ICE Richtung Frankfurt fährt um 14.01 Uhr. Für den habe ich natürlich keine Reservierung. Ich wuchte meine Tasche durch schimpfende Menschen zu den Abschnitten A und B, dort soll die erste Klasse sein. Vielleicht sind da am ehesten Plätze frei. Später werde ich erfahren, dass der ICE bei der Abfahrt exakt drei freie Plätze in der ersten Klasse hatte. Um 13.54 Uhr lese ich auf der Anzeige, dass die Erste-Klasse-Wagen diesmal in den Abschnitten E und F sind. Immerhin nicht X und Y. Kurz will ich mich aufraffen. Dann erkenne ich die Sinnlosigkeit meines Tuns.

          Höchstens zehn Minuten zu spät rollt der ICE 1279 ein. Ich finde einen Platz, der von Lüneburg bis Mannheim reserviert, also erst einmal frei ist. Viele andere stehen. Auf den Gängen hocken Dutzende neben Rucksäcken und Koffern. In Lüneburg ergattere ich einen Platz bis Hannover, dort einen bis Göttingen. Undenkbar, das mit Kindern zu schaffen. Mein schlechtes Gewissen wächst: Wenn ich sitze, sitzen andere nicht. Als ich einer Frau meinen Platz anbiete, winkt sie ab. Sie hat gesehen, dass sie ohnehin bald wieder aufstehen müsste. Der ICE wird immer voller. Als sich eine Bahnmitarbeiterin zur Kartenkontrolle durch den Großraum kämpft, frage ich sie nach freien Plätzen in der ersten Klasse, für die ich ja eigentlich gezahlt habe. Sie lächelt müde. Ich lächele müder zurück. Kleinkinder schreien, die ersten Reisenden beschimpfen einander. Aber es ist halt nicht so einfach, das Gepäck irgendwo zu verstauen. Denn natürlich ist nirgends mehr Platz. Mein Zustand wechselt von Wut zu Resignation. Hauptsache, es ist irgendwann vorbei.

          Von Göttingen an stehe ich bis Frankfurt-Süd. Im Gang des Großraum-Wagens setzen sich die Ersten auf den Boden: Sie können nicht knapp zwei Stunden stehen. Der ICE hat eine Verspätung von mehr als 20 Minuten. Ein Junge schlägt mir vor, Ball zu spielen. Ich muss leider ablehnen. Irgendwann hocke ich mich auch hin. Der Gang ist unpassierbar. Als es eine Bahnmitarbeiterin trotzdem versucht, wird sie beinahe ausgebuht. Um kurz vor halb sieben bin ich in Frankfurt, gut 90 Minuten später als geplant. Ich bin durchgeschwitzt und fertig. Die S2 nach Hofheim ist pünktlich. Ich rufe meine Freunde an. Sie sind auch noch nicht lange daheim. Stundenlanger Stau vor dem Elbtunnel.

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