Cannes-Tagebuch: Hör auf den Horror

Aus Cannes berichtet

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"Saul Fia"-Regisseur Laszlo Nemes (Mitte): Darf er zeigen, was er zeigt?

Wie soll man diesen Auschwitz-Film 107 Minuten lang überstehen? Das ungarische Werk "Saul Fia" erschüttert das Festival in Cannes. Die griechische Satire "The Lobster" überzeugt derweil als herrlich unromantisches Plädoyer für die Liebe.

Am Anfang ist nur das Wimmern einer Frau deutlich zu vernehmen. Das Bild ist unscharf, im Hintergrund kann man einige Personen in einem Waldstück gerade erahnen. Wenn man jedoch weiß, dass man in einem Film über die letzten Monate von Auschwitz-Birkenau sitzt, reicht das aus, um den schlimmsten Horror zu evozieren. Dieses Spiel mit den Sinnen und dem Gedächtnis treibt Lászlo Nemes in seinem Debütfilm "Saul Fia" (Sauls Sohn, Wettbewerb) ab der ersten Einstellung so furios voran, dass man Angst bekommt, wie man die kommenden 107 Minuten überstehen soll.

Nach den ersten Sekunden kommt Saul Ausländer (Geza Röhrig) in den Fokus. Er ist Teil der sogenannten Sonderkommandos von Auschwitz: Dies sind Inhaftierte, die ihre eigene Ermordung um wenige Wochen verzögern können, indem sie den Nazis beim Vergasen und Verbrennen ihrer Opfer helfen. An Sauls Fersen haftet sich fortan die Kamera von Mátyás Erdély und führt das Publikum mit ihm in die Hölle.

Die Menschen aus dem Waldstück werden in die Vorzimmer der Gaskammern gejagt, ihnen werden erst eine Dusche, dann heiße Suppe versprochen. Also sollen sie sich beeilen und sich in die Kammern mit den schweren Türen zwängen. Als diese Türen sich schließen, hält die Kamera, die bislang Saul dabei gefolgt ist, wie er die neuen Inhaftierten zur Eile antreibt, inne. Dann setzen die Schreie der Menschen und ihre Schläge gegen die Türen ein.

Debütfilm "Saul Fia": Führt das Publikum furios in die Hölle Zur Großansicht
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Debütfilm "Saul Fia": Führt das Publikum furios in die Hölle

"Saul Fia" wird zweifellos noch etliche Diskussionen darüber nach sich ziehen, ob Nemes zeigen darf, was er zeigt: die anonymen Leichenberge; die nackten Körper, die Saul und die anderen von den Sonderkommandos hinter sich her schleifen, um sie aus den Gaskammern in die Krematorien zu bringen; die Ascheberge, die die Überlebenden im Anschluss in den Fluss schaufeln sollen.

Auf der Tonspur der ganze Schrecken von Auschwitz

Dabei ist sich Nemes erkennbar bewusst, dass er mit den dokumentarischen Bildern aus den Lagern nicht konkurrieren kann. Er verengt den visuellen Ausschnitt auf Sauls Perspektive - und breitet stattdessen auf der Tonspur den ganzen Schrecken von Auschwitz aus. Keine Minute vergeht, in der nicht ein Nazi "Judenschwein" brüllt oder Rufe wie "Arbeiten! Arbeiten!" ertönen. Und wenn diese Rufe einmal nicht zu hören sind, vernimmt man ein leises Donnern, von dem man nicht weiß, ob es die Lastwagen mit der nächsten Menschenladung sind oder die schweren Flammen der Krematorien.

Weil den Kommandeuren bewusst ist, dass die Rote Armee das Lager bald erreichen wird, treiben sie das Morden in noch höherem Tempo voran. Statt des bürokratisch verrichteten Genozids zeichnet Nemes so ein Bild von blutrünstiger Enthemmung.

Gleichzeitig findet er in dieser zeitlichen Verortung auch eine Begründung für das atemlose Herumirren von Saul, das dem Film sein Tempo verleiht. Mitunter wirkt das gezwungen, so als hätte Nemes Angst, dass ihm der Film in Momenten des Innehaltens entgleiten könnte.

Auch die Geschichte von Sauls vermeintlichem Sohn, auf den der Titel abzielt, nimmt sich eher wie ein Zugeständnis an Erzählkonventionen aus. Beides fällt jedoch nur auf, weil sich "Saul Fia" ansonsten so stark außerhalb des Überkommenen bewegt. Schon jetzt einer der prägenden Filme des Festivals.

  Liebesfilm "The Lobster": Auf dass sich jeder seine eigene Romantik zusammenschustere   Zur Großansicht
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Liebesfilm "The Lobster": Auf dass sich jeder seine eigene Romantik zusammenschustere

Spätestens seit der düsteren, oscarnominierten Familiensatire "Dogtooth" gilt Giorgos Lanthimos als einer der wichtigsten Vertreter des neuen griechischen Kinos. Mit "The Lobster" präsentiert er in Cannes nun nicht nur seinen ersten englischsprachigen Film, sondern auch seine erste Arbeit mit Hollywood-Stars.

Colin Farrell spielt die männliche Hauptfigur David, einen frisch verlassenen Ehemann, der aufgrund seines Single-Status in ein einsames Hotel an der irischen Küste überführt wird. Findet er hier, unter anderen Singles, nicht innerhalb von 45 Tagen eine Partnerin, wird er in ein Tier seiner Wahl verwandelt - ohne Beziehung trennt den Menschen schließlich nichts vom Tier, so die vorherrschende Meinung in der Parallelwelt von "The Lobster", die ansonsten ziemlich viel mit unserer Pärchen-versessenen Gegenwart gemeinsam hat.

David hat sich entschlossen, in einen Hummer verwandelt zu werden. Weil er das Meer mag, und Hummer bis zu hundert Jahre alt werden können. Doch eigentlich hat er anderes mit seinem Leben vor, als auf dem Meeresgrund herum zu krabbeln. Und Lanthimos hat anderes mit seinem Film vor, als die ganze Zeit über in dem unendlich skurrilen Singles-Hotel zu verweilen. Das kann man bedauern, weil seine Regeln und seine Bewohner (u.a. Olivia Coleman, Ben Whishaw, John C. Reilly) grotesk unterhaltsam sind. So können Singles ihre Verwandlung aufschieben, wenn sie bei täglichen Jagden im Wald flüchtige Singles mit dem Betäubungsgewehr erlegen.

Doch weder bei dieser Jagd noch bei der im Hotel nach einer Partnerin ist David besonders erfolgreich, weshalb er sich zur Flucht in den Wald entscheidet. In der buchstäblich freien Wildbahn schließt er sich einer Gruppe um eine charismatische Anführerin (Léa Seydoux) an, die das Gegenteil des Pärchen-Fanatismus zu leben versucht, nämlich die völlige Abwesenheit amouröser Verstrickungen.

Auch das ist weder für David noch für Lanthimos eine Lösung - weshalb "The Lobster" schlussendlich in einem Plädoyer dafür mündet, dass sich jeder seine Art von Romantik selber zusammenschustern muss, wenn er glücklich werden will. Dass in Davids Fall Selbstverstümmelung dabei eine Rolle spielt, zeigt, wie befreit Lanthimos' Fantasie ist - und wie großartig es ist, dass ausgerechnet jemand wie er einen Liebesfilm gedreht hat.

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1. Interessant
yumyum 15.05.2015
Das klingt nach einem sehr interessanten Film. Spannend auch, dass er aus Ungarn kommt, ein Land dessen Filmförderung streng an die Regierung Orban gebunden ist. Blickt man nach Deutschland, wird das Thema KZ inzwischen missbraucht um mit "DDR Gründungsmythen" aufzuräumen (Nackt unter Wölfen). Da fragt man sich schon, welche Förderung die wirklich unabhängige ist.
2. Ein Remake von
tommykocher 16.05.2015
Habe den Film natürlich noch nicht gesehen, aber so wie er beschrieben wird klingt es nach Tim Blakes Die Grauzone ohne Aufstand des Sonderkommandos. Den Schauer den einem Blake über den Rücken jagt wenn Moll im Kramatorium wahlos Menschen erschiesst, hunderte Menschen in Orchester begleitung in die Auskleidungskammern gehen, LKW Ladungen voll von Asche Richtung Sola transportiert werde usw ist für mich fraglich.
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