Cannes-Tagebuch: Hör auf den Horror
Wie soll man diesen Auschwitz-Film 107 Minuten lang überstehen? Das ungarische Werk "Saul Fia" erschüttert das Festival in Cannes. Die griechische Satire "The Lobster" überzeugt derweil als herrlich unromantisches Plädoyer für die Liebe.
Am Anfang ist nur das Wimmern einer Frau deutlich zu vernehmen. Das Bild ist unscharf, im Hintergrund kann man einige Personen in einem Waldstück gerade erahnen. Wenn man jedoch weiß, dass man in einem Film über die letzten Monate von Auschwitz-Birkenau sitzt, reicht das aus, um den schlimmsten Horror zu evozieren. Dieses Spiel mit den Sinnen und dem Gedächtnis treibt Lászlo Nemes in seinem Debütfilm "Saul Fia" (Sauls Sohn, Wettbewerb) ab der ersten Einstellung so furios voran, dass man Angst bekommt, wie man die kommenden 107 Minuten überstehen soll.
Die Menschen aus dem Waldstück werden in die Vorzimmer der Gaskammern gejagt, ihnen werden erst eine Dusche, dann heiße Suppe versprochen. Also sollen sie sich beeilen und sich in die Kammern mit den schweren Türen zwängen. Als diese Türen sich schließen, hält die Kamera, die bislang Saul dabei gefolgt ist, wie er die neuen Inhaftierten zur Eile antreibt, inne. Dann setzen die Schreie der Menschen und ihre Schläge gegen die Türen ein.
"Saul Fia" wird zweifellos noch etliche Diskussionen darüber nach sich ziehen, ob Nemes zeigen darf, was er zeigt: die anonymen Leichenberge; die nackten Körper, die Saul und die anderen von den Sonderkommandos hinter sich her schleifen, um sie aus den Gaskammern in die Krematorien zu bringen; die Ascheberge, die die Überlebenden im Anschluss in den Fluss schaufeln sollen.
Auf der Tonspur der ganze Schrecken von Auschwitz
Dabei ist sich Nemes erkennbar bewusst, dass er mit den dokumentarischen Bildern aus den Lagern nicht konkurrieren kann. Er verengt den visuellen Ausschnitt auf Sauls Perspektive - und breitet stattdessen auf der Tonspur den ganzen Schrecken von Auschwitz aus. Keine Minute vergeht, in der nicht ein Nazi "Judenschwein" brüllt oder Rufe wie "Arbeiten! Arbeiten!" ertönen. Und wenn diese Rufe einmal nicht zu hören sind, vernimmt man ein leises Donnern, von dem man nicht weiß, ob es die Lastwagen mit der nächsten Menschenladung sind oder die schweren Flammen der Krematorien.
Weil den Kommandeuren bewusst ist, dass die Rote Armee das Lager bald erreichen wird, treiben sie das Morden in noch höherem Tempo voran. Statt des bürokratisch verrichteten Genozids zeichnet Nemes so ein Bild von blutrünstiger Enthemmung.
Gleichzeitig findet er in dieser zeitlichen Verortung auch eine Begründung für das atemlose Herumirren von Saul, das dem Film sein Tempo verleiht. Mitunter wirkt das gezwungen, so als hätte Nemes Angst, dass ihm der Film in Momenten des Innehaltens entgleiten könnte.
Auch die Geschichte von Sauls vermeintlichem Sohn, auf den der Titel abzielt, nimmt sich eher wie ein Zugeständnis an Erzählkonventionen aus. Beides fällt jedoch nur auf, weil sich "Saul Fia" ansonsten so stark außerhalb des Überkommenen bewegt. Schon jetzt einer der prägenden Filme des Festivals.

Liebesfilm "The Lobster": Auf dass sich jeder seine eigene Romantik zusammenschustere
Colin Farrell spielt die männliche Hauptfigur David, einen frisch verlassenen Ehemann, der aufgrund seines Single-Status in ein einsames Hotel an der irischen Küste überführt wird. Findet er hier, unter anderen Singles, nicht innerhalb von 45 Tagen eine Partnerin, wird er in ein Tier seiner Wahl verwandelt - ohne Beziehung trennt den Menschen schließlich nichts vom Tier, so die vorherrschende Meinung in der Parallelwelt von "The Lobster", die ansonsten ziemlich viel mit unserer Pärchen-versessenen Gegenwart gemeinsam hat.
Doch weder bei dieser Jagd noch bei der im Hotel nach einer Partnerin ist David besonders erfolgreich, weshalb er sich zur Flucht in den Wald entscheidet. In der buchstäblich freien Wildbahn schließt er sich einer Gruppe um eine charismatische Anführerin (Léa Seydoux) an, die das Gegenteil des Pärchen-Fanatismus zu leben versucht, nämlich die völlige Abwesenheit amouröser Verstrickungen.
Auch das ist weder für David noch für Lanthimos eine Lösung - weshalb "The Lobster" schlussendlich in einem Plädoyer dafür mündet, dass sich jeder seine Art von Romantik selber zusammenschustern muss, wenn er glücklich werden will. Dass in Davids Fall Selbstverstümmelung dabei eine Rolle spielt, zeigt, wie befreit Lanthimos' Fantasie ist - und wie großartig es ist, dass ausgerechnet jemand wie er einen Liebesfilm gedreht hat.
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