Alzheimer-Film "Still Alice": Warum nicht einfach Krebs?
Dann soll doch lieber ein Tumor meinen Körper zerfressen! Ihre Rolle als Professorin mit Alzheimer bescherte Julianne Moore ihren ersten Oscar. Zu Recht. Ihr Auftritt macht "Still Alice" zum großen Film.
Der Film ist noch nicht alt, und Alice Howland hat soeben eine wichtige Essenseinladung verschwitzt, da stellt sie ihrem Mann eine rhetorische Frage, trotzig vor Selbstmitleid: "Warum konnte ich nicht einfach Krebs bekommen?" Da trügen die Menschen, so schickt sie hinterher, wenigstens rosafarbene Schleifen für einen, sammelten Spenden, veranstalteten Charity-Läufe. Und sie selbst wäre frei von dieser Scham.
Jede Verabredung birgt fortan die Gefahr, sich zu blamieren. Namen, Wörter, Erinnerungen: Sie entgleiten Howland, langsam, aber unaufhaltsam. Anfangs zeigen sich bloß Zerstreutheiten, von den Mitmenschen kaum bemerkt, nachsichtig belächelt. Simple Wörter fallen Howland nicht ein, beim Joggen im vertrauten Uni-Viertel verliert sie die Orientierung, ein Nebel aus Unschärfe umgibt sie dann im Film.
Auf sehenswerte Weise beklemmend
Das Drama "Still Alice" basiert auf dem gleichnamigen Roman der US-amerikanischen Neurowissenschaftlerin Lisa Genova. Die Verantwortung fürs Gelingen der Verfilmung legt das Regie-Duo Richard Glatzer und Wash Westmoreland in die Hände von Julianne Moore; besser gesagt in ihre Gesten und Gesichtszüge. Und macht damit alles richtig. Die Geschichte, in weiten Teilen so wohlgeordnet und vorhersehbar wie unausweichlich, wird eindrucksvoll getragen von ihrem Spiel.
Wie Alice im Laufe der 100 Minuten langsam die Kontrolle einbüßt, wie aus einer betonfest im Leben stehenden Frau nach und nach ein überfordertes, zerbrechliches Wesen wird, das ist auf sehenswerte Weise beklemmend. Die Kamera klebt an Moore, begleitet sie in unaufgeregt langen Einstellungen, gibt zuweilen gar das übliche Wechselspiel aus Schuss und Gegenschuss beim Dialog auf, um ganz bei ihr zu bleiben.
Wie zuletzt schon als überspannte Diva in David Cronenbergs plakativer Hollywood-Satire "Maps to the Stars" gelingt es Julianne Moore auch in "Still Alice", einen Film durch ihr uneitles Spiel aufzuwerten, ihm mehr Tiefe zu verleihen, als das Drehbuch vorgesehen hat.
So sehr Julianne Moore im Mittelpunkt des Films steht, so treffend besetzt sind die Nebenrollen. Alec Baldwin gibt den Ehemann als warmherzigen Bären, dessen Schwur, stets für seine Frau da zu sein, mehr und mehr der Wunsch entgegenwächst, die eigene Karriere voranzutreiben. Kate Bosworth (ehrgeizige Juristin), Hunter Parrish (sprunghafter Arzt) und Kristen Stewart (chronisch klamme Schauspielerin) bilden als Geschwister ein etwas zu gewollt gegensätzliches Trio, doch die dramaturgisch wichtigen Reibereien innerhalb der Familie sind so wenigstens programmiert.
Wenn die Mutter nicht mehr die Tochter erkennt
Dass mit Alice Howland jemand Intellekt und Sprache einbüßt, für den Kommunikation einen elementaren Lebensinhalt bildet, und dass sie sich selbst dabei zusehen muss, darin liegt die Brisanz des Stoffes. Je höher das Bildungsniveau, so erklärt im Film der behandelnde Neurologe, desto schneller schreite die Krankheit voran. Howlands Stottern, ihr Ringen nach Worten, wo zuvor elaborierter Ausdruck stand, die eigene Verzweiflung darüber, und wie die Familie schließlich beginnt, in Gegenwart der Mutter in der dritten Person über sie zu reden - Momente von leiser Grausamkeit, die berühren, und die zugleich effektvoller sind als manche lauten, mitunter allzu theatralischen in diesem Film.
Nach vier Nominierungen wurde Julianne Moore vor wenigen Tagen für "Still Alice" erstmals mit dem Oscar geadelt, fraglos verdient. Wobei sie zuvor schon gewonnen hatte, was für eine Schauspielerin zu gewinnen ist: Golden Globes, BAFTA Award und Emmy, Coppa Volpi und Silberner Bär, im vergangenen Jahr erst der Preis für die beste Darstellerin in Cannes. Und das Publikum darf sich freuen, mit 54 Jahren ist die große Charakterdarstellerin gerade einmal im Spätsommer ihres Schaffens.
USA 2014
Regie: Richard Glatzer, Wash Westmoreland
Buch: Richard Glatzer, Wash Westmoreland, basierend auf Lisa Genova
Darsteller: Julianne Moore, Alec Baldwin, Kristen Stewart, Kate Bosworth, Shane McRae, Hunter Parrish, Seth Gilliam, Victoria Cartagena
Produktion: Killer Films, Big Indie Pictures
Verleih:polyband Medien
Länge: 101 Minuten
Start: 5. März 2015
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