Oscar-Favorit "Birdman": Ein Vogel? Ein Flugzeug? Ein Hampelmann!
Michael Keaton spielte einst Batman, dann geriet er ins Karriereabseits. In "Birdman" gibt er quasi sich selbst - einen Ex-Blockbuster-Helden, der es noch einmal wissen will. Eine virtuos gefilmte Showbiz-Satire - und der Favorit bei den Oscars.
Riggan Thomson (Michael Keaton) war einmal ein Kino-Superheld, ein Blockbuster-Garant, ein Weltstar. Als Superheld "Birdman" hatte er den Ruhm. Jetzt, im Herbst der Karriere, soll die Kunst dran sein.
Zu Beginn von "Birdman" macht Thomson in seiner Garderobe eine Meditationsübung. Er hockt im Yogi-Sitz mit freiem Oberkörper am offenen Fenster. Erst als die Kamera zurückfährt, sehen wir, dass er in der Luft schwebt. Für den Zuschauer der Hinweis: Hier sind die Grenzen der Realität aufgehoben. Hier soll nicht nur eine Satire auf das Showgeschäft erzählt werden, hier wird der Künstler an sich ausgelotet, das Labyrinth der Identitäten, in dem man schon mal den Sinn für die Selbstwahrnehmung verlieren kann: Ich bin Birdman, natürlich kann ich fliegen!
Auch Alejandro González Iñárritu erfindet sich mit dieser Burleske neu. Der aus Mexiko stammende Regisseur machte sich bisher mit schwermütigen, am Weltgeist sauer aufstoßenden Dramen wie "Babel" oder "Biutiful" einen Namen. Eine Komödie hatte niemand von ihm erwartet, was einen anscheinend befreienden, man möchte sagen: beflügelnden Effekt hatte.
Das zeigt sich vor allem in der Inszenierung: Die Bilder von Emmanuel Lubezki (Oscar für "Gravity"), einem der zurzeit besten Kameramänner Hollywoods, heben und senken sich mit der Dramatik des Geschehens, man rast mit den Filmfiguren durch die engen, verschachtelten Gänge hinter der Bühne oder gleitet in langen Plansequenzen vor ihnen her. Durch geschickte Schnitte entsteht die Illusion eines einzigen Takes. Dazu hämmert antreibend ein perkussiver Soundtrack. Alles - Bilder, Personen, Rollen, Fiktion und Realität - dreht sich in diesem Flattern und Flirren um sich selbst.
Eigentlich wurde das Fegefeuer der Schauspieler-Eitelkeiten schon zu oft inszeniert, von "Sunset Boulevard" und "All About Eve" bis zu "King Of Comedy" und "All That Jazz" - und jedem zweiten Woody-Allen-Film. Iñárritus Kniff ist es, der tragikomischen Nabelschau mit virtuosen technischen Tricks mehr Wow-Effekt zu verleihen. So hat er zum Beispiel eine Blockbuster-gerechte Action-Sequenz zu bieten, in der Thomson, nicht im Superdress, sondern im Trenchcoat, als "Birdman" gegen ein geflügeltes Fabelwesen kämpft und Manhattan mal wieder in Schutt und Asche gelegt wird.
Effektvoll inszeniert, aber nicht sonderlich originell ist auch die Szene, als der von Regie-Stress, einem gockelhaften Schauspieler-Konkurrenten (Edward Norton), seiner frisch aus der Entzugsklinik entlassenen Tochter (Emma Stone) und einer hasserfüllten "New York Times"-Kritikerin (Lindsay Duncan) komplett entnervte Thomson sich plötzlich nur mit Unterhose bekleidet auf offener Straße wiederfindet: Er wollte schnell eine rauchen, die Metalltür des Theater-Hintereingangs fiel zu, der Bademantel klemmte ein. Tapfer kämpft sich Thomson durch die johlende, ihn mit dem Handy filmende Menge auf dem Times Square und durch den Vordereingang wieder auf die Bühne. Wir haben's verstanden: Für die Kunst muss man sich richtig nackig machen.
Hollywood liebt es
Doch gerade weil sich Keatons Biografie und Thomsons Schicksal nicht voneinander trennen lassen, vermisst man in seiner Darstellung die großen Momente. Vielleicht ist Keaton zu gut darin, den miesen Schauspieler Thomson zu geben. Vielleicht wird seine Subtilität auch nur von Edward Norton überstrahlt, der mit gewohnter, immer eindrucksvoller Intensität aufspielt. Ironie am Rande: Der von Actionkino-Hasser Iñárritu als Verkörperung der reinen Schauspielkunst besetzte Norton war selbst schon als Comicfigur Hulk zu sehen.
So ist dieser um sich selbst kreiselnde und immer wieder in die echte Welt verweisende Film nicht wirklich zu fassen. Statt abzuheben, verharrt er in einer seltsamen Schwebe, bleibt er die vielleicht unproportional aufgeplusterte Gaukelei, die ja auch sein Sujet ist: Das Showgeschäft als Balanceakt zwischen Höhenflug und Absturz, zwischen Fingerübung und Kunstfertigkeit, Prätention und Psychodrama, Tragik und Triumph. All das nennt man auch Kino.
Originaltitel: Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance)
Regie: Alejandro González Iñárritu
Buch: Alejandro González Iñárritu, Nicolas Giacobone, Alexander Dinelaris, Armando Bo
Darsteller: Michael Keaton, Edward Norton, Emma Stone, Naomi Watts, Andrea Riseborough, Zach Galifianakis, Amy Ryan, Lindsay Duncan
Produktion: Fox Searchlight, New Regency, Worldview Entertainment
Verleih: Fox
Länge: 120 Minuten
Start: 29. Januar 2015
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