Zugverkehr : Das offene System und seine Feinde

Nach dem vereitelten Anschlag in einem Thalys-Zug diskutiert die EU über neue Schutzmaßnahmen in Bahnen. Sicherheitsmaßnahmen wie an Flughäfen sind aber nicht möglich.
Polizisten vor einem Thalys-Schnellzug an einem Bahnsteig in Nordfrankreich © Philippe Huguen/Getty Images

Das Konferenzzentrum Albert Borschette liegt in der Nähe der Metrostation Schuman im Brüsseler Europaviertel. Die Interessenvertreter und Mitarbeiter der EU-Kommission, die sich hier am 11. September trafen, sind Fachleute auf dem Gebiet des öffentlichen Transportwesens. Ihre Aufgabe war alles andere als angenehm. Sie sollten Szenarien für den Fall eines Terroranschlags auf den Zugverkehr in Europa durchspielen. 

Drei Wochen zuvor hatte ein schwerbewaffneter Angreifer versucht, in einem Thalys-Schnellzug zwischen Amsterdam und Paris ein Massaker zu verüben. Mehrere geistesgegenwärtige Passagiere überwältigten den mit einer Kalaschnikow bewaffneten 25-jährigen Marokkaner. Anschließend ernannte Frankreichs Präsident François Hollande die "Thalys-Helden", drei Amerikaner und einen Briten, zu Rittern der französischen Ehrenlegion. Auch US-Staatschef Barack Obama lud sie ins Oval Office ein.

Experten halten Kontrollen wie an Airports für unmöglich

Abseits des öffentlichen Rampenlichts fand hingegen jene Sitzung der "Landsec"-Arbeitsgruppe vor mehr als einer Woche im Brüsseler Borschette-Konferenzzentrum statt, zu der die EU-Kommission eingeladen hatte. Das Kürzel "Landsec" steht für Sicherheit bei der Personenbeförderung auf dem Landweg. Beim Treffen der Expertengruppe waren neben Vertretern der 28 EU-Mitgliedstaaten unter anderem auch Repräsentanten des europäischen Eisenbahn-Dachverbandes CER dabei, der Unternehmen wie die Deutsche Bahn und den französischen Bahnkonzern SNCF vertritt. Ein Vertreter der Infrastrukturbetreiber-Vereinigung EIM saß ebenfalls mit am Tisch. Und auch Firmen, die den Bahnunternehmen gerne neue Sicherheitstechnik verkaufen würden, waren vertreten – durch den Verband "European Organisation for Security" (EOS). 

Der Anlass für das Brüsseler Treffen: Am Tag nach dem nur knapp verhinderten Blutbad im Thalys-Schnellzug hatte EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc per Twitter angekündigt, dass ihre Behörde die Sicherheitsvorkehrungen für Zugpassagiere auf den Prüfstand stellen werde. Naturgemäß kümmert sich die EU-Kommission um den grenzüberschreitenden Zugverkehr. Die Thalys-Hochgeschwindigkeitszüge verbinden gleich vier EU-Länder miteinander – Deutschland, Belgien, die Niederlande und Frankreich. Auch wenn der Attentatsversuch nahe der belgisch-französischen Grenze glimpflich ausging, rief er neben EU-Kommissarin Bulc noch weitere europäische Politiker auf den Plan: Der belgische Premierminister Charles Michel forderte, dass für die Thalys-Fernverbindungen ähnlich strenge Sicherheitsvorkehrungen wie beim "Eurostar" gelten müssten. Reisende, die die Zugverbindung zwischen London und dem Kontinent nutzen, müssen wie am Flughafen weit vor der Abfahrt einchecken. 

Allerdings waren sich die Experten beim jüngsten Treffen der Brüsseler "Landsec"-Arbeitsgruppe schnell einig, dass eine drastische Verschärfung der Kontrollen an Bahnhöfen und in Zügen ein Ding der Unmöglichkeit ist. "Bahnreisende werden Verzögerungen wie auf Flughäfen nicht hinnehmen", sagte etwa Bartlomiej Jesionkiewicz von der Infrastrukturbetreiber-Vereinigung EIM. Dass die Einführung von Personensperren oder Gepäck-Scannern an Bahnhöfen illusorisch ist, zeigt schon ein Blick auf die gewaltige Anzahl der Passagiere, die beispielsweise in Deutschland die Bahn nutzen. Die Deutsche Bahn und ihre Tochtergesellschaften befördern pro Tag rund 7,3 Millionen Menschen – allein diese Zahl macht deutlich, dass Zugangskontrollen an den Bahnhöfen ähnlich wie bei den Airports kaum machbar sind.

Fahrgastverband "Pro Bahn" plädiert für erhöhte Polizeipräsenz

Auch der Fahrgastverband "Pro Bahn" kann mit Überlegungen, gezielt vor der Abfahrt von Hochgeschwindigkeitszügen Passagiere per Metalldetektor oder Ganzkörperscanner zu überprüfen, wenig anfangen. Durch solche Vorkehrungen würden potenzielle Attentäter dann auf andere Ziele – etwa S-Bahnen – ausweichen, argumentiert Karl-Peter Naumann, der Sprecher von "Pro Bahn". Naumann hält es für sinnvoller, durch eine verstärkte Präsenz der Bundespolizei an Bahnhöfen "den Eindruck einer verstärkten Überwachung zu erzeugen". 

Ähnlich sieht das auch Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU). "Die Bahn ist ein offenes und frei zugängliches System", sagte Dobrindt Ende August nach einem Treffen von Innen- und Verkehrsministern aus mehreren EU-Staaten in Paris. Der französische Innenminister Bernard Cazeneuve hatte nach dem Thalys-Anschlagsversuch, der mutmaßlich einen islamistischen Hintergrund hat, zu dem Treffen eingeladen. Zuvor hatte die französische Regierung nach dem Attentat auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" im Januar ein ganzes Bündel an Sicherheitsmaßnahmen verkündet. Dobrindt sprach sich indes bei dem Treffen mit seinen Amtskollegen in Paris dafür aus, Gepäck- und Personenkontrollen in Zügen nur dann gezielt zu verstärken, wenn entsprechende Informationen auf mögliche Anschläge vorliegen. 

"Train Marshalls" könnten im Notfall nicht schnell genug eingreifen

Viele Fachleute halten es zudem nicht für praktikabel, die Sicherheit während der Zugfahrt wie im Flugverkehr durch mitreisende "Marshalls" zu erhöhen. Anders als im Flugzeug hätten bewaffnete "Train Marshalls", wie sie die EU-Kommission nach dem verhinderten Anschlag im Thalys vorgeschlagen hatte, kaum eine Chance, im Notfall in Sekundenschnelle einen Angreifer zu überwältigen. Stattdessen schlägt "Pro Bahn"-Sprecher Naumann vor, Züge mit einem System auszustatten, das die durch Deckenkameras aufgenommenen Bilder in Echtzeit an eine Einsatzzentrale der Polizei übermittelt.

Übungen für den Ernstfall als Pflicht?

Angesichts der vielen Einwände aus den Reihen der Bahn-Praktiker gegen ein zeitraubendes und im Zweifel ineffizientes Sicherheitssystem wird in Brüssel nicht damit gerechnet, dass die EU-Kommission eine Verordnung zur Verschärfung der Kontrollen erlässt. Als wahrscheinlicher gilt, dass die Brüsseler Behörde auf dem Wege einer weniger verbindlichen Mitteilung an den Sicherheitssinn der Bahnunternehmen in der EU appelliert. Denkbar sei dabei unter anderem, dass Bahnunternehmen dazu angehalten werden, Übungen für den Notfall abzuhalten, heißt es in Brüssel. Wie sich ein Unternehmen dabei auf Anschläge vorbereitet, soll von der Gefährdungslage abhängen – und die ist im Großraum Paris anders als in Nordschweden. 

Am 8. Oktober sollen die EU-Verkehrsminister nun bei ihrem nächsten Treffen in Luxemburg darüber beraten, welche Konsequenzen sie aus dem vereitelten Anschlag im Thalys ziehen wollen. Ihnen dürfte aber auch bewusst sein, was "Pro Bahn"-Sprecher Naumann zu den Grenzen der Kontrollmöglichkeiten sagt: "Eine flächendeckende Überwachung ist im System der Eisenbahn nicht möglich."

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