Terrorismus : Die Blutspur von Boko Haram

Für Nigerias Regierung scheint der Terror von Boko Haram nur eines von vielen Problemen – und nicht einmal das drängendste. Auch das trägt zur wachsenden Bedrohung bei.

Ignatius Kaigama versteht die Welt nicht mehr. Natürlich trauere auch er um die Toten in Paris, sagt der mutige Erzbischof von Jos, einer Stadt in Zentralnigeria, die direkt an der Schnittstelle der von Christen und Muslimen bewohnten Regionen liegt. Und natürlich verstehe er auch die enorme Symbolik, die hinter den Anschlägen islamistischer Fanatiker auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt stecke. Dennoch ist Kaigama über das Desinteresse des Westens an den in ihrer numerischen Dimension noch grausameren Taten der Islamisten in seinem eigenen Land erschüttert. "Dabei zeigen doch gerade die jüngsten Massaker von Boko Haram mehr alles andere, welch konkrete Gefahr von diesen Islamisten ausgeht", klagt der Erzbischof.

Nichts wünsche er sich angesichts der Massendemonstration gegen den islamischen Terror am Sonntag in Paris mehr, als dass die Menschen im Westen auch einmal Solidarität mit den Opfern in Nigeria zeigten. Doch um eine solche Welle des Mitgefühls zu entfachen, ist der westafrikanische Ölstaat mit seinen 175 Millionen Einwohnern offenbar allein geografisch zu weit von den Menschen in Europa entfernt.

Seit Monaten eskaliert die Gewalt in dem Land – nicht zuletzt deshalb, weil sich der nigerianische Staat längst aus der Verantwortung für die Sicherheit seiner Bürger verabschiedet hat. Oft suchen Soldaten und Polizisten bei Angriffen das Weite und tauchen erst nach dem Abzug der Killerbande wieder auf. Auch dem jüngsten Blutbad in der Garnisonstadt Baga im äußersten Nordosten ging offenbar ein schlimmes Versagen der Armee voraus. Sie soll beim ersten Angriff der Islamisten auf ihre Kaserne rasch die Flucht ergriffen und die Stadt mit ihren 10.000 Zivilisten damit schutzlos preisgegeben haben.

Amnesty International berichtete von einem "katastrophalen Ausmaß der Verwüstung". "Einer der Orte wurde in vier Tagen fast komplett von der Landkarte gelöscht", sagte Amnestys Nigeria-Mitarbeiter Daniel Eyre. Er sprach von dem bisher größten und zerstörerischsten Angriff der Terroristen. Auch andere Städte und Dörfer in der Region seien attackiert worden, Flüchtende aus dem Hinterhalt von den Terroristen erschossen worden.

Für die Machthaber in der Hauptstadt Abuja scheint Boko Haram dennoch nur eines von vielen Problemen zu sein – und offenbar nicht einmal das drängendste. Dies liegt auch daran, dass man sich dort nie groß um den muslimischen Norden geschert hat, selbst als dort Muslime das Sagen hatten, was laut Verfassung in stetem Wechsel mit den Christen geschieht.

Symptomatisch dafür ist aber auch, dass Staatschef Goodluck Jonathan vergangene Woche zunächst das Attentat in Paris vollmundig verurteilte, ehe er sich weit später in dürren Worten zu dem noch viel blutigeren Massaker im eigenen Land äußerte, das zeitgleich geschah. Augenzeugenberichten zufolge sollen mehrere Hundert, womöglich sogar bis zu zweitausend Menschen vergangene Woche bei verschiedenen Überfällen der Islamisten auf Dörfer am Tschadsee und die Garnisonsstadt Baga ermordet worden sein.

Boko Haram destabilisiert Lage in Nigeria zunehmend Kurz vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Nigeria steht Amtsinhaber Goodluck Jonathan wegen der Gewalt im muslimisch geprägten Norden des Landes unter Druck. Die Islamistengruppe Boko Haram will dort einen Gottesstaat errichten.

Die genaue Zahl der Opfer, ist aber weiter unklar, wenn sie denn je bekannt wird. Nach Aussagen örtlicher Beamter wurden am 3. Januar mehrere hundert Menschen getötet, die nigerianische Regierung hingegen spricht wieder einmal beschwichtigend von nur rund 150 Toten, darunter angeblich vielen Terroristen. Dabei verfügen die Machthaber nach der Flucht der eigenen Soldaten und dem Zusammenbruch der Verwaltung in der Region über keine verlässlichen Informationen.

Ähnlich dubios hatte die Regierung bereits im April 2014 auf die Entführung von 230 Mädchen reagiert, die bis heute fast alle verschollen sind. Damals hatten sich die Machthaber wegen eines bevorstehenden Wirtschaftsgipfels aus Sorge vor Negativschlagzeilen fast drei Wochen lang in Schweigen gehüllt, ehe sie die Entführungen angesichts der Empörung der Welt doch zugaben.

Dabei hat die Bedrohung durch Boko Haram mit der Einnahme von Baga eine ganz neue Dimension angenommen. Mit dem Verkehrsknotenpunkt kontrollieren die Islamisten fast den gesamten Nordosten des Landes, einschließlich der Grenzen zu Kamerun, Niger und Tschad aber auch der Verkehrswege entlang der Sahelzone bis ins sudanesische Darfur.

Nur Verteidigungsminister Chris Olukolade scheint noch nicht gänzlich den Blick für die Realität verloren zu haben. Anders als Präsident Jonathan gestand er zu Wochenbeginn zumindest ein, es sei durchaus möglich, dass die Armee beim gegenwärtigen Stand der Dinge den Krieg gegen Boko Haram am Ende verliere. Zu besiegen sei die Terrortruppe wohl nur noch mit einer "internationalen Koalition", sagte Olukolade. Doch davon ist vor allem nach der Kritik der USA an den unhaltbaren Zuständen innerhalb des nigerianischen Militärs und den deshalb von Washington ausgesetzten Waffenlieferungen nichts zu sehen.

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Überlebenskampf

Es ist ein Überlebenskampf, der da stattfindet.
In Mali sind keine Probleme gelöst, sondern nur verschoben auf unbestimmte Zeit. Solange der Bevölkerungszuwachs exponentiell ist, ist kein Land der Welt in der Lage, militärisch eine Lösung zu finden.
Sie können nicht gegen eine immer größer werdende Armee von "nichts-zu-Verlierern" gewinnen. Diese Menschen haben nichts und ihre Zahl steigt von Tag zu Tag. Es wird der Tag kommen, an dem der Westen die örtlichen Regierungen mit jeglichen Problemen alleine lassen wird.