Am Anfang waren alle "Charlie". Damals, unmittelbar nach den Anschlägen auf die Satire-Zeitschrift "Charlie Hebdo", bei denen zwölf Menschen ermordet wurden. Heute sind die #jesuischarlie-Hashtags wieder verschwunden. Dafür gibt es viele Wenns und Abers.
Deshalb ist eine Initiative wie "JeResteCharlie" so wichtig, weil sie jene Werte unterstützt, für die "Charlie Hebdo" steht. Denn wir leben in einer Zeit, in der wir Gefahr laufen, beim Eintreten für Meinungsfreiheit zurückzufallen. Deshalb ist es wichtig, diese Werte gerade jetzt noch einmal zu betonen.
Das gilt besonders für jene unter uns, die privilegiert sind, weil sie an Orten dieser Welt leben, wo wir Freiheiten haben, wo wir die Möglichkeit haben, das zu sagen, was wir wollen, wo wir schreiben können, was wir wollen – wo wir die Bilder zeichnen können, die wir wollen.
Es ist wichtig, dass wir Stellung beziehen. Dass wir standhalten. Dass wir sagen: Dies ist die Welt, in der wir leben möchten. Und um in dieser Welt zu leben, muss es in Ordnung sein, dass es diese Karikaturen gibt. Wir müssen nicht versuchen, uns dafür zu entschuldigen.
Satire erfordert Respektlosigkeit
Wir dürfen auch nicht versuchen, die Attacke auf "Charlie Hebdo" zu entschuldigen, indem wir Verständnis für die Angreifer aufbringen. Haltet stand! Wenn wir in einer offenen Gesellschaft leben wollen, gehört die Akzeptanz solcher Karikaturen dazu. Wie würde ein respektvoller Cartoon wohl aussehen? Die Form als solche existiert gar nicht.
Die Form der Cartoons erfordert Respektlosigkeit. Die Satire erfordert, dass man sich über Leute lustig macht, über sie lacht. Wer auch immer sie sein mögen. Je mächtiger sie sind, umso besser. Standhalten! Darum geht es. Es ist wichtig, dass wir heute sagen: Hier verläuft die Grenzlinie. Sie darf nicht ausradiert werden.
Derzeit gibt es jedoch diese Kombination aus Beschwichtigungsstimmung und politischer Korrektheit, besonders aufseiten der Linken. Das hat sich kürzlich gezeigt, als der Schriftstellerverband PEN die Zeitung "Charlie Hebdo" für ihren Mut zur Meinungsfreiheit auszeichnen wollte – und einige Schriftsteller dagegen protestierten. Viele von ihnen fanden das Attentat in Paris zwar grausam, aber die Auszeichnung der Überlebenden empfanden sie als selbstgerecht, zudem würde man damit die Gefühle der Muslime verletzen.
Da war es wieder – dieses Aber. Ich fand es eigenartig, dass diese Haltung jetzt von linken Schriftstellern artikuliert wurde. Mit vielen war ich bekannt, mit einigen befreundet – Peter Carey oder Michael Ondaatje zum Beispiel. Nach dem Erscheinen meines Romans "Die Satanischen Verse" und all dem, was daraufhin folgte, musste ich mir ähnliche Vorwürfe anhören, wie sie heute "Charlie Hebdo" gegenüber geäußert wurden.
"Rushdie wusste doch genau, was er machte", hieß es da oft, "er hat vorsätzlich provoziert." Oder: "Er hat es nur gemacht, um berühmt und reich zu werden." Der Großteil dieser Vorwürfe kam damals von Leuten, die politisch rechts standen. Heute sind es die Linken, die den Satirikern von "Charlie Hebdo" fast die gleichen Vorwürfe machen. Ich finde, das ist eine seltsame Entwicklung.
Ich bin mir sicher: Wenn die Attacken gegen mich und mein Werk heute passiert wären, hätten dieselben Schriftsteller, die heute gegen die Würdigung von "Charlie Hebdo" protestieren, sich nicht für mich eingesetzt.
"Charlie Hebdo"-Kritiker vertreten Interesse der Angreifer
Die PEN-Veranstaltung in New York mit der Würdigung von "Charlie Hebdo" war ein großer Erfolg. Gérard Biard, der jetzige Chefredakteur der Satirezeitschrift, und deren Filmkritiker Jean-Baptiste Thoret waren nach New York gekommen. Thoret hat den Anschlag nur deshalb überlebt, weil er, wie jeder gute französische Filmkritiker, zu spät zur Arbeit gekommen war. Eine halbe Stunde. Als er die Redaktion erreichte, waren zwölf Menschen tot.
Thoret sagte mir an jenem Abend etwas sehr Entscheidendes: "Wenn die Leute unsere Cartoons nicht mögen, können wir das ja diskutieren. Vielleicht mag ich selbst sie ja auch nicht. In unserer Redaktion stritten und streiten wir ständig, was wir veröffentlichen sollen und was nicht. Wir stimmten nie überein. Jedem von uns missfiel immer die Hälfte dessen, was wir veröffentlichten. Es geht nicht darum, ob du die Cartoons magst oder nicht. Wenn du sie nicht magst, dann komm her und sag es uns. Vielleicht bin ich ja bei jenem spezifischen Detail, das dir nicht gefällt, auf deiner Seite. Oder auch nicht."
Wenn man sich, wie einige meiner Kollegen, weigert, Menschen zu verteidigen, die eine solch tödliche Attacke überlebt haben, wenn man ihnen somit signalisiert, sie seien es nicht wert, gewürdigt zu werden – dann frage ich mich: Welche Interessen bedienen diese Kollegen? Es sind ganz bestimmt nicht die Interessen der Freiheit. Es sind auch nicht jene des Journalismus. Sie vertreten die Interessen der Angreifer.
Aufgezeichnet von Martin Scholz
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