Kultur

Bibliophilie

04.08.15

Diese schönen Bücher könnten auf den Catwalk gehen

Wenn Bücher Plakat spielen, heißt das Schutzumschlag. Ein Prachtband zeigt nun Buchumschläge der Weimarer Republik. Eine Feier auf die Außenhaut der Literatur – und ihre Designer.

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Von Marc Reichwein

Alfred Döblins Welterfolg "Berlin Alexanderplatz" ist eine Collage aus Reportage, Zeitungsdeutsch und Berliner Straßenjargon. Georg Salters Umschlaggestaltung für den Fischer-Verlag spiegelt dieses Montage-Prinzip perfekt wieder.

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Foto: TASCHENTASCHEN

Für eine "Anthologie neuer Großstadtdichtung" gestaltete Martin Weinberg urbane Kurven, wie sie dann erst den Neunzigern wiederkamen.

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Foto: TASCHENTASCHEN

Seitenweise Cover fürs Auge, manchmal sogar mit eigenem Auge wie in dem Satireband "Der Deutschenspiegel", von Oskar Garvens illustriert, bietet ein neuer Prachtband über Buchumschläge der Weimarer Republik.

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Foto: TASCHENTASCHEN

"Wir vom Film" verspricht Geschichten vom "Leben, Lieben, Leiden der Filmstars". Einige von ihnen sind unschwer zu erkennen. Das Cover hat Dugo (das ist András Szenes) gestaltet.

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Foto: TASCHENTASCHEN

Manchmal ist Bücherlesen wie U-Bahn-Fahren. Es gibt im Jargon der Büchermacher vier Linien, auf die jeder potenzielle Buchkäufer unterschiedlich oft zurückgreift: U1 ist die Umschlagsseite vorne außen, U2 vorne innen, U3 hinten innen, U4 hinten außen. Am meisten frequentiert mit unseren Blicken wird die U1, das Buchcover.

Wenn Leute im Buchladen oder online stöbern, bekommen sie Bücher in der Regel erst einmal nur so zu Gesicht. Auf den Tischen sowieso, aber auch immer öfter in den Regalen: Traditionell standen Bücher hier Rücken an Rücken, inzwischen regiert die "Frontalpräsentation". Das klingt latent aggressiv, und ist es werbepsychologisch auch. Bis zu siebzig Prozent aller Buchkäufe entscheiden sich über das Buchcover, behaupten Studien.

Und zweifellos entscheidet die U1 oft genug, ob der Buchinteressent es dann überhaupt noch willentlich mit der U4, der U2 (die bei Hardcovern oft den klassischen Klappentext enthält), der U3 (mit Porträtfoto und und Informationen zum Autor) zu tun bekommt.

In der Bücher-Kleiderkammer

Jahrhundertelang kannten Bücher überhaupt keine U-U-umständliche Einkleidung, sie kamen mehr oder weniger als nackter Papierblock zum adeligen und bürgerlichen Endkunden. Der ließ sie einheitlich nach eigenem Geschmack binden und einbinden, weswegen klassische Bücherwände (von der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel bis zu den Reußen in Greiz) auch immer so homogen aussehen. Schweinsleder, ja bitte! Der farbliche und stoffliche Wildwuchs in unseren Billy-Regalen wäre dem Ästhetikverständnis früherer Buchbesitzer ein Graus gewesen. Erst im 19. Jahrhundert kam das auf, was man den "Verlegereinband" nennt.

Der Buchumschlag als mitgelieferter Teil der Buchproduktion war eine Reaktion auf die Massenauflagen und Schnellpressen, mit denen Bücher von der handwerklichen zur industriellen Ware wurden und sich nicht mehr nur über ihre Inhalte definieren und verkaufen konnten.

Albert Langen, der Verleger der berühmten Satire-Zeitschrift "Simplicissimus", der den tragischsten aller Verlegertode starb (1909 an einer verschleppten Mittelohrentzündung, die er sich zugezogen hatte, weil er im offenen Wagen einem Zeppelin-Luftschiff enthusiastisch hinterhergefahren war), Albert Langen hatte seinen Verlag 1893 in Paris gegründet, und gilt – angeregt durch die französische Plakatkunst – als eigentlicher Erfinder der modernen Umschlaggestaltung im deutschsprachigen Raum.

Mehr Kultur der Buchgestaltung

Die Zeit der Kulturverleger nach 1900 war die erste Blütephase der Buchcover-Kunst. Pioniere wie Eugen Diederichs ("Gestalt folgt Gehalt"), Karl Robert Langewiesche (der den modernen Klappentext erfand), Wieland Herzfelde (der Bruder von Helmut Franz Joseph Hertzfeld, den wir als John Heartfield kennen) und natürlich Samuel Fischer, Gustav Kiepenheuer, Rowohlt, Reiss und Ullstein – sie alle profilierten sich mit Verlagen, deren Gemisch aus inhaltlichem Anspruch und optischem Stilwillen Maßstäbe setzte.

Und Buchgestaltung wenn schon zu keinem eigenen Zweig der Kunst, so doch wenigstens zu einem Echoraum der großen Künste und Kunstströmungen machten: Gestandene Buchgestalter wie Hans Meid oder Emil Rudolf Weiß und moderne Designer wie John Heartfield, George Grosz, Georg Salter bildeten in den Buchumschlägen Stilrichtungen wie Expressionismus, Konstruktivismus, Bauhaus und Dada ab. Sie experimentierten mit Fotomontagen, Farben, sie spielten mit Typografie und Karikatur.

Der sehr empfehlenswerte Prachtband des 1936 in Berlin geborenen Buchantiquars Jürgen Holstein weiß um seine subjektive Expertise, die auf der eigenen Sammlung beruht ("Wir folgten unserer langjährigen Erfahrung als Antiquare und Büchersammler").

Er ist Lese-, Bilderbuch und Nachschlagewerk in einem und konzentriert sich auf die Jahre von 1919 bis 1933, das lange (mit Blick auf das, was durch die Nazis jäh kaputtging, aber auch sehr kurze) "Berliner Jahrzehnt", in dem die deutsche Hauptstadt neuen Schwung in allen Kultursparten erlebte – auch in der Buchkunst, die, wie es im Vorwort des Holstein-Buches heißt, immer nur ein "Orchideenfach für Conaisseurs" geblieben ist.

Dass wir hier überhaupt etwas über Buchumschläge wissen und erzählen können, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn im Grunde müssen wir uns das Schicksal von Büchern, die in Bibliotheken landen, so brutal wie im Kinderkrippenklischee vom kollektiven Toilettengang vorstellen. Einmal alle nackig machen. Nur dass Bücher ihre Klamotten, bibliothekarisch gesprochen, nie wieder angezogen bekommen.

Buchumschläge sind das heimliche Müllproblem der Bibliotheksgeschichte, denn die allermeisten Institutionen sammeln Bücher ohne Umschläge.

Das Schicksal der "Paratexte", wie man sie seit Genette nennt, offenbart Lücken im kulturellen Gedächtnis, Buchumschläge sind das heimliche Müllproblem der Bibliotheksgeschichte, denn die allermeisten Institutionen sammeln Bücher ohne Umschläge. Zum Glück gibt es weltweit ein paar Ausnahmen: das Victoria & Albert Museum in London oder das Deutsche Literaturarchiv in Marbach horten Zigtausende Buchumschläge.

Oft liegt den Sammlungen privater Sammeleifer und viel Zufall zugrunde, wie im Fall von Dr. Ludwig Bielschowsky, der vor 1933 als Richter in Essen tätig war, zu Beginn der Nazi-Herrschaft nach Südafrika auswanderte, wo er Beschaffungsbibliothekar in der Nationalbibliothek von Kapstadt wurde und mit den Umschlägen, die sonst weggeworfen worden wären, den Grundstein seiner Sammlung von 50.000 Buchumschlägen legte, die später ins Gutenberg-Museum in Mainz einging.

Der Geist der Zeit im Umschlag

Die Holstein-Kollektion ist das erste Kompendium zum Thema Einbandgestaltung der Zwanzigerjahre. Zu ihren Vorzügen gehört es, nicht nur "fiction" in den Blick zu nehmen, wie es Literaturwissenschaftler und -kritiker gern tun, sondern auch "non-fiction". Gerade Sachbücher erzählen noch viel breiter und oft auch direkter vom Geist der Zeit, sie zeigen, in welchem Ausmaß Kunst und Sport, Fotografie und Film, Sexualität und Reklame, aber auch linke und rechtsnationale Propaganda zum Buchgegenstand wurden.

Viel Input kam auch vom boomenden Zeitschriftensektor; Gestalter wie Werner Gräff wirkten ohnehin hier wie da und bannten die Design-Dynamik der schnelleren Medien Presse und Film aufs Buch. Auch die Großstadt ist ein Leitmotiv und bietet sich in Kurven dar, die so erst in den Neunzigern wiederkamen.

Das stimmig sortierte Potpourri der Buchumschläge dokumentiert – gerade in seiner widersprüchlichen Vielfalt – den, wie Musil sagen würde, "Möglichkeitssinn" des so quirligen Weimarer Jahrzehnts, aber auch seine Disharmonie, die Golo Mann von der "unglücklichen Zeit" sprechen ließ. Das mit blutroten Demarkationslinien und Landkarten des geschrumpften Oberschlesien illustrierte Cover zu Arnolt Bronnens Roman "O.S." nimmt die Revisions- und Expansionswut des Dritten Reichs schon 1929 buchgestalterisch bedenklich vorweg.

Die Vorgeschichte dieses Buches

Holstein hat das (fast) gleiche Buch unter dem Titel "Blickfang. Bucheinbände und Schutzumschläge Berliner Verlage 1919–1933. 1000 Beispiele, illustriert und dokumentiert" übrigens 2005 schon einmal publiziert, im Selbstverlag. Die damalige Ausgabe enthielt noch ein paar mehr (wenngleich nicht immer größer abgebildete) Buchumschläge sowie weitere Aufsätze zu Fachthemen.

Sie war, mit Leineneinband, Prägetitel, entfaltbarem Schutzumschlag und zweierlei Lesebändchen versehen, durchaus noch eine Spur bibliophiler und edler geraten als ihr jetziger Taschen-Klon. Und sie wurde nicht in China gedruckt. Aber sie kostete eben auch stolze 198 Euro, während die jetzige Coffeetable-Version so erschwinglich ist wie eine Woche Coffee-Culture bei Starbucks.

Taschens Masche, Bücher gleich zweisprachig, sprich für den internationalen Markt zu publizieren, ist nicht jedermanns Sache. Aber selten war sie mehr gerechtfertigt. Wie Holstein (schon in seiner Originalausgabe) anführt, hat das Umschlagsammeln seine eigentliche Heimat in den USA, wo es seit jeher eine Community mit spezialisierten Händlern, Umschlagmessen und Katalogen gibt.

Don't judge a book by its cover

Das, was Bücher einkleidet und seine Funktion als "Schutzumschlag" hierzulande längst an die PET-Folie verloren hat, heißt auf Englisch so schön: jacket. Auch das sprichwörtliche Don't judge a book by its cover, das Sie in einem Artikel zu diesem Thema mit Recht erwarten durften, kommt nicht von ungefähr aus dem englischen Sprachraum.

Erfreulich also, dass die Holstein-Dokumentation zur Einbandgestaltung der Zwanzigerjahre erstmals zeigt, wie frisch und vielfältig sich auch und gerade deutsche Verleger das merkantile Prinzip, dass sich gut verpackte Ware leichter verkauft, zu eigen machten. Als Nächstes bitte ein Band zur Buchgestaltung nach 1945. Willy Fleckhaus, Celestino Piatti, Werner Rebhuhn – wer sammelt und dokumentiert euch?