Kultur

Gary Shteyngart

29.07.15

"Gott, haben wir ein anstrengendes Leben!"

"Failurchka", sagte seine Mutter zärtlich: "Kleiner Versager". Und so hat Gary Shteyngart denn auch gleich den Roman seines Lebens genannt. Ein Besuch auf seiner Datscha im Hudson Valley.

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"Ach", sagt Gary Shteyngart und lässt sich mit einem tiefen Seufzer auf den Liegestuhl fallen, "wir arbeiten ja so hart! Gott, haben wir ein anstrengendes Leben." Stimmt, das Einzige, was jetzt noch fehlt, ist ein Kellner, der die Campari Sodas serviert. Damit der Reporter die Spesen aber wenigstens oberflächlich rechtfertigen kann, stellt er dem Schriftsteller am Rande des Swimmingpools nun doch eine Frage: Ob ihn seine Bücher, wenn sie fertig sind, denn noch interessieren?

Mit einem Ruck ist Gary Shteyngart – ein kleiner, feingliedriger Mann mit Dreitagebartschatten am Kinn – hellwach und konzentriert. "Die ersten vier Bücher, die ich geschrieben habe, kommen mir zusammen wie ein Projekt vor", sagt er. "Ich hatte eine Geschichte, die musste ich erzählen, und mir scheint, dass ich mir das meiste jetzt von der Brust geschrieben habe. 'Kleiner Versager' macht die anderen Bücher komplett."

Dazu muss man wissen, dass Gary Shteyngart 1972 in Leningrad als Igor Semyonowitsch Shteyngart geboren wurde. Vor dreizehn Jahren erlebte er mit seinem herrlich verrückten "Handbuch des russischen Debütanten" in Amerika immerhin einen Achtungserfolg.

Kein Fernseher, aber schreckliche Hemden

Es folgten der geradezu absurd lustige, dabei tief tragische Roman "Snack Daddys abenteuerliche Reise" und die bitterschwarze Satire "Super Sad True Love Story". Und nun hat Gary – der im Grunde ein Igor ist und seinen knüppeldicken Akzent erst als Teenager abgelegt hat – seine bisherige Lebensgeschichte aufgeschrieben. Ganz wahrhaftig, ohne romanhafte Schnörkel. Mit diesem Memoiren-Buch, sagt Shteyngart, sei das russisch-amerikanische Thema für ihn erst mal erledigt: "Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich mich anderen Dingen zuwenden kann."

Gary Shteyngart ging an eine jüdische Schule in Queens und schämte sich dort so sehr dafür, ein ehemaliger Sowjetbürger zu sein, dass er sich lieber als Ostdeutscher ausgab

Was ist "Kleiner Versager"? Ein Meisterwerk der Hochkomik, das von einer tiefen Schwermut durchtränkt ist. Wenn wir uns vorstellen könnten, Tschechow hätte etwas geschrieben, bei dessen Lektüre man alle paar Seiten in schallendes Gelächter ausbricht, dann hätten wir ungefähr dieses Buch vor uns. Der Titel erklärt sich so, dass seine Mutter ihn mit diesem grobzärtlichen Kosenamen rief: "Failurchka".

Das war aber nicht das Schlimmste, was dem kleinen Igor passierte. Er litt als Kind unter schwerem Asthma, das in der Sowjetunion mit mittelalterlichen Methoden behandelt wurde – seinen ersten Inhalator bekam er erst als Emigrant in Wien in die Hand gedrückt. In New York war der kleine Igor dann der Freak, der nicht richtig sprechen konnte, keinen Fernseher zu Hause hatte und schreckliche Hemden trug.

"Bitte, hatte ich denn eine Wahl?"

Als er acht Jahre alt war, beschloss sein Vater, ihn nachträglich beschneiden zu lassen: "Bis heute zucke ich beim Anblick einer blanken Rasierklinge zusammen." Es war eine schmerzhafte, demütigende Erfahrung. Er ging an eine jüdische Schule in Queens und schämte sich dort so sehr dafür, ein ehemaliger Sowjetbürger zu sein, dass er sich lieber als Ostdeutscher ausgab. Später bekam er lange keine Freundin ab, kiffte und soff wie ein Loch. "Warum ich Schriftsteller geworden bin?" heißt es im Buch. "Bitte, hatte ich denn eine Wahl?"

Dann war es so, dass sein Vater ihn schlug. Ist "Kleiner Versager" also unter anderem auch ein Buch über Kindheitsmisshandlung? Gary Shteyngart wedelt diese Frage mit erhobener Hand weg. "Das ist einfach ein Kulturunterschied", sagt er. In der Sowjetunion gehörte es nun einmal zur Erziehung dazu, dass man Kinder schlug. Es bedeutete nicht, dass sein Vater grausam war; es bedeutete nicht, dass der kleine Igor nicht geliebt wurde.

Beinahe abrupt wechselt Shteyngart das Thema. Er spricht also lieber darüber, welche Bücher von Kollegen er gern liest. Jhumpa Lahiri etwa, die ebenso wie er ein Immigrantenkind ist – nur eben kein jüdisch-russisches, sondern ein indisch-englisches. "Wir Einwandererkinder haben etwas gemeinsam", sagt er, "wir wissen genau, dass wir um keinen Preis scheitern dürfen. Es ist ganz einfach nicht drin für uns."

Vielleicht ist Gary Shteyngart auch darum ein Hansdampf in vielen verschiedenen Gassen: Er lehrt an der Columbia, er arbeitet mit einem Freund gerade daran, "Super Sad Love Story" in eine Fernsehserie zu verwandeln. Er dreht durchgeknallte YouTube-Clips, um Werbung für seine Romane zu machen. (Für "Kleiner Versager" ließ er sich als unrasierter Ehemann des Schauspielers James Franco im Bademantel filmen.) Und natürlich arbeitet Shteyngart am nächsten Roman.

Darin wird es um Wirtschaft gehen – genauer: um Hedge Fund Manager. Eine ganz eigene, sehr merkwürdige Welt, in der Männer an einem einzigen Nachmittag zwei Milliarden verlieren, um sie am nächsten Morgen wieder zu verdienen; eine Welt, in der Erfolg daran gemessen wird, wie viele Kinder man gezeugt hat, weil die Erziehung jedes dieser Kinder mehrere Millionen kostet.

Kraftwerk beim Schreiben

Gary Shteyngart hat gerade Thomas Pikettys "Das Kapital im 21. Jahrhundert" gelesen und bewundert den Autor als Stilisten: "Ein sehr elegant geschriebenes Buch." Wahrscheinlich, schiebt Shteyngart noch nach, wird in Zukunft ein Prozent der Weltbevölkerung 99 Prozent aller Roboter besitzen, die dann alle Arbeit für uns verrichten. Er kichert wie ein kleiner Junge: "Ich liebe düstere, dystopische Szenarien."

Shteyngart schreibt vier Stunden am Tag, dabei hat er Kopfhörer auf. Am liebsten – der Schriftsteller grinst etwas hinterhältig – hört er "Kraftwerk" beim Schreiben, denn er braucht die tiefen, wummernden Bässe; eine schöne Melodie würde ihn nur ablenken.

Russland hat von allem immer das Schlimmste abgekriegt. Erst das Sowjetsystem, dann die schlimmste Sorte Kapitalismus
Gary Shteyngart

Im Hintergrund muht eine Kuh – oder sind es zwei Kühe? Gary Shteyngart spricht über Aleksandar Hemon, mit dem er oft im selben Atemzug genannt wird. Hemons großartiges "Buch der neun Leben" kam ungefähr zur selben Zeit wie "Kleiner Versager" heraus. "Es sieht sehr komisch aus, wenn Sasha und ich nebeneinandergehen", sagt Shteyngart: "Er ist so groß – und ich bin so winzig!"

Unbestreitbar: Hemon ist ein Kleiderschrank mit kahlem Kopf. Gerade liegt dem Reporter eine besonders kluge Frage auf der Zunge, da fängt es plötzlich an zu regnen. Erst tröpfelt es, dann tun sich die Schleusen des Himmels auf. Der Reporter und der Schriftsteller verziehen sich in einen Pavillon neben dessen "Datscha". (Just so hatte Shteyngart sein Landhaus in der Nähe von Rhinebeck im Hudson Valley in einer E-Mail genannt; natürlich handelt es sich in Wahrheit um eine sehr fürstliche Datscha.) In diesem Pavillon zu sitzen, während das Wasser vom Himmel fällt, ist ausgesprochen angenehm. Und Gary Shteyngart fängt an, von Vladimir Nabokov zu erzählen – dem Meister.

Ein bisschen Pnin

Sein Lieblingsroman: "Pnin". Das ist jenes Buch, in dem man am Anfang über den Helden lacht, der einem wie ein Tölpel vorkommt, ein Clown – und sich am Ende schämt, dass man je über diesen wunderbaren, tapferen Menschen gelacht hat. Manche lesen "Pnin" vor allem als Satire auf den amerikanischen Universitätsbetrieb – Shteyngart nicht.

"Nabokov hat sich in jedem seiner Bücher über amerikanische Unis lustig gemacht", sagt er, "das ist nichts Besonderes." Das Besondere an "Pnin" sei vielmehr, dass Nabokovs ganze Sympathie hier einem Emigranten aus Russland gilt, der es – im Unterschied zu ihm selber – nicht geschafft hat. "Nabokov stammte aus dem russischen Adel, das merkt man vielen seiner Bücher an. Aber in 'Pnin' vergisst er all seine Privilegien. Es ist sein menschlichstes Buch." Und vielleicht ist "Kleiner Versager" unter anderem auch dies: eine versteckte Hommage an "Pnin".

Leider kann man in diesen Tagen nicht über Russland sprechen, ohne irgendwann Putin zu erwähnen. Gary Shteyngart stöhnt nur, wenn er diesen Namen hört – und nicht vor Lust. Nein, er hätte nicht für möglich gehalten, dass dieses Regime noch einmal so durchstartet und einen Krieg vom Zaun bricht. "Das einzig Gute ist, dass sie nicht über genug Petrodollar verfügen", meint er.

"Gar nicht auszudenken, was sie sonst alles anstellen würden. Sie haben entsetzliche Angst vor einer orangen Revolution in Russland – dabei hat eine solche Revolution in Russland in Wahrheit keine Chance." Dann fügt er hinzu: "Russland hat von allem immer das Schlimmste abgekriegt. Erst das Sowjetsystem, dann die schlimmste Sorte Kapitalismus. Es ist wirklich eine Tragödie. Unter Jelzin gab es diesen kurzen Moment, wo die Leute angefangen haben, wirklich an die Demokratie zu glauben, aber leider war das, was unter diesem Firmenschild in Russland praktiziert wurde, keine gute Werbung dafür."

Mittlerweile hat der schöne Sommerregen sich ausgetröpfelt. Der Reporter und der Schriftsteller beschließen, zum Abendessen ins nahe gelegene Dorf zu fahren. Dort reden sie über Kinder und tauschen Fotos aus, wie stolze Väter das so tun. Und erst als der Reporter mit dem Zug wieder nach Hause fährt – die Strecke führt am Hudson vorbei, der Fluss schimmert im Abendlicht – fällt ihm ein, dass er mit Gary Shteyngart gar nicht über den Schluss von "Kleiner Versager" gesprochen hat.

Am Ende schlägt das Buch nämlich eine überraschende Volte: Der Schriftsteller zeigt uns seine Eltern dort so, wie sie ihm als Erwachsenem erscheinen. Und mit einem Mal sind sie keine Witzfiguren mehr, auch keine Ungeheuer, als die sie dem Kind manchmal erschienen waren, sondern ein anrührendes älteres russisches Paar.

Außerdem weiht Shteyngart uns in ein Geheimnis ein, das im Rückblick vieles verständlich macht: Sein Vater war als junger Mann Patient in einer jener grässlichen psychiatrischen Kliniken, in die man in der Sowjetunion bekanntlich auch kerngesunde russische Dissidenten einwies. Reden seine Eltern nach der Veröffentlichung von "Kleiner Versager" eigentlich noch mit ihm? "Gewiss doch", sagt Gary Shteyngart, der über die Frage beinahe verärgert erscheint. Aber dann fügt er hinzu: "Weder mein Vater noch meine Mutter haben das Buch gelesen. Sie können nicht gut genug Englisch."