Kultur

Houellebecqs Utopie

09.01.15

2022 darf Frankreich endlich sein Gehirn abgeben

Im Roman "Unterwerfung" schildert Michel Houellebecq ein muslimisches Frankreich. Der Anschlag in Paris galt auch diesem Buch. Dabei ist die Pointe: Unter dem Islam wird alles besser – für Männer.

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Von Leitender Feuilletonredakteur

Der alte Satz behält unverändert seine Wahrheit: Bücher haben ihr Schicksal. Das Schicksal dieses Buches ist es, dass man es im Lichte der schrecklichen Ereignisse vom 7. Januar 2015 anders lesen wird, als sein Verfasser es konzipiert hat. Das bekommt auch der Kritiker zu spüren. Er schloss seine Rezension ab, bevor die Nachricht von den Pariser Attentaten ihn erreichten. Er kann seine Zeilen jetzt nicht mehr so in die Welt schicken, wie sie waren. Er schreibt sie um, er schreibt sie neu. Was bleibt, ist seine Bewertung der literarischen Leistung Houellebecqs. Er hält "Unterwerfung" für eine der gelungensten, weil fantasievollsten, witzigsten, um nicht zu sagen aberwitzigsten Arbeiten, die der Autor je geschaffen hat.

Allein, es handelt sich um eine – mögliche Zukunftsszenarien kühn miteinbeziehende – Satire auf das Frankreich der Gegenwart, das nun doch urplötzlich ein anderes geworden ist. Der Islam gilt Houellebecq nur als eines von vielen Objekten der Persiflage – und kommt noch am besten weg. Bitteres, tragisches Missverständnis der Rezeption: Die Anschläge vom 7. Januar, die auch Houellebecq und sein Buch treffen wollten, das an diesem Tag in Frankreich ausgeliefert wurde, reagieren auf eine literarische Fantasie, in der sich der Held freiwillig, wenn auch aus nicht ganz uneigennützigen Gründen, zum Islam bekehrt, einem moderaten Islam, wie er von einem fiktiven muslimischen Präsidenten der französischen Republik des Jahres 2022 verkörpert wird. Gesehen durch die Brille Michel Houellebecqs, beziehungsweise seines Helden François, hinter dem sich sein Schöpfer verbirgt wie hinter den anderen François', Michel, Brunos seiner Romane, die stets Vexierbilder seiner selbst zeichneten. Und damit sind wir mitten in der Rezension.

Es geht Houellebecq immer um Erlösung durch Selbstaufgabe

Denn wie hoch man immer die satirischen Anteile von "Unterwerfung" veranschlagen will, im Kern ist das Buch etwas anderes: Es bezeichnet einen Durchbruch im Schaffen Houellebecqs. Das Ende des Tunnels, um eine Formulierung des Autors aufzunehmen. Der eine lange Vorgeschichte besitzt. Was hat sich Houellebecq nicht alles ausgedacht, um zu zeigen, wie das angeblich so abgewirtschaftete Abendland, das darniederliegende Frankreich, der dahinvegetierende westliche Mensch erlöst werden kann.

Er hat ja eigentlich literarisch nie etwas anderes gemacht, als seinem Verlangen nach Erlösung Ausdruck zu geben. Wir Leser erinnern uns noch gut: In "Elementarteilchen" war es der genetisch manipulierte neue Mensch, der irgendwann im 21. Jahrhundert endlich, endlich durch Abschaffung des sexuellen Begehrens den alten Adam befreien sollte. Oder "Plattform". Was gab sich Houellebecq da nicht für eine Mühe, um das moderne Individuum, nun ganz im Gegenteil, durch die "lebensfrohe Religion" jenes "Aphrodite-Projekts" selig zu machen, mit dem er "Sex für alle" durch gefügige Asiatinnen als Heilmittel ausfantasierte. Aber irgendwie funktionierte das alles nicht. Für den geklonten Menschen gab es erst in ferner Zukunft und bei erheblicher Verbesserung der Gentechnik eine Chance. Und dann war der asexuelle Mensch auch keine gar so attraktive Vorstellung. Und was die fernöstlichen Sexcamps anging, so tobten aufgebrachte Islamisten ihre Zerstörungswut an diesen hedonistischen Asylen aus.

Der Islamist schafft in "Unterwerfung", was Le Pen nicht gelingt

Aber jetzt! Jetzt hat Houellebecq die ultimative Lösung gefunden. Und sie lag so nahe. Man musste sich nur die politische Landschaft in Frankreich etwas näher anschauen. Man brauchte nur das sich abzeichnende Auseinanderbrechen der 5. Republik ein wenig hochzurechnen. Und schon hatte Houellebecq oder doch der Held seines neuen Buches, der Literaturwissenschaftler François, die Formel. Die Formel, die da lautet Konversion. Unterwerfung unter den Islam.

Aber damit ja nicht genug! Nicht nur François, dieses labile, latent depressive, sexuell frustrierte, ungeliebte arme Würstchen darf endlich sein Gehirn an der Garderobe der muslimischen Bruderschaft abgeben. Nein, ganz Frankreich kommt in den Genuss einer neuen Ordnung, in der die alten Werte – Familie, Moral, Patriarchat – wieder aufgerichtet werden. Dank eines charismatischen, moderat muslimischen Politikers namens Ben Abbès. Der setzt all das ins Werk, was die tumben Rechten unter Marine Le Pen nicht vermochten. Und dabei wird er auch noch unterstützt durch die "republikanische Front" der hilflosen herkömmlichen Parteien.

Denn alle, alle kriechen ja so gern zu Kreuze, pardon: zum Halbmond. Die Franzosen, wie Houellebecq sie sieht, erinnern sich mit Wonne daran, dass sie ja vor nicht allzu langer Zeit schon mal ein Volk der Kollaborateure waren. Da kommt man nicht so schnell aus der Übung!

Na gut, ein paar Dinge nerven jetzt François ganz schön im neuen Frankreich. Überall plärrt einem diese krude arabische Musik entgegen. In der Öffentlichkeit sieht man kaum noch sexy angezogene Frauen. Überhaupt verschwindet das weibliche Element aus dem gesellschaftlichen Leben, und so allein mit lauter Kerlen kann es auf die Dauer ganz schön öde sein. Dagegen ist das ewige Halal-Food, das einem in Kantinen, Zügen, Restaurants vorgesetzt wird, schon fast eine lässliche Störung, an die man sich schnell gewöhnt. Denn man muss natürlich auch die Gegenrechnung aufmachen. Was gewinnt man nicht schließlich alles unter der Herrschaft des Islam!

Der Protagonist ist wieder einmal ein Abbild Houllebecqs

Hier beweist sich tatsächlich der ganze Aberwitz des Autors Michel Houellebecq. Die vordergründige Skandalisierung, die dem Erscheinen des Romans vorausgegangen war, begreift den Roman als apokalyptische Angstvision. Aber Houellebecq macht keineswegs Panik. Was er in seiner Hexenküche anrichtet, ist vielmehr ein stark gepfeffertes Menü, das uns in überwältigender Weise daran erinnert, dass Literatur freies Spiel der imaginativen Kräfte ist. Ausgeburt einer ganz speziellen Magie, zu der sich aufwirft, wer sich als literarischer Demiurg versteht. Wenn er dabei ein Mann vom Kaliber Houellebecqs ist, macht er sich allerdings noch den zusätzlichen Jux, aktuelle Debatten zu berühren, indem er sie mit einem Höchstmaß an Verletzung gängiger Denkverbote munter durcheinanderwirbelt. Das muss auch und gerade nach dem 7. Januar 2015 erlaubt sein. Doch im Grunde geht es um etwas ganz anderes.

Im Grunde geht es um die Lehre, die der neue Präsident der nunmehr "Islamischen Universität Sorbonne" dem Helden dieses Buches bei seinem Versuch, ihn wieder als Hochschullehrer zu gewinnen, so formuliert: "Der Gipfel des menschlichen Glücks besteht in der absoluten Unterwerfung." Und François, der nicht von ungefähr ein Spezialist für den Décadence-Dichter und katholischen Konvertiten Joris-Karl Huysmans ist, der von 1848 bis 1907 lebte, François also ist als Alter Ego Michel Houellebecqs bestens dafür präpariert, diese Lehre zu akzeptieren und zu verinnerlichen.

Houellebecq beurteilt Frauen nur nach ihrem Bindegewebe

Denn, um noch einmal auf die Gegenrechnung zu kommen: Dank der reichen Saudis, die viel Geld in die Hand nehmen, um die französischen Bildungseinrichtungen zu islamisieren, soll François, seine Konversion vorausgesetzt, dreimal so hohe Bezüge erhalten wie bisher. Überhaupt wird Erziehung bei den Muslimen großgeschrieben. Natürlich nur für Männer, Frauen werden zurück an den Herd geschickt. Das hat aber für einen Macho wie François auch seine Vorteile, zumal man nun mehrere von ihnen heiraten kann, die sich dann als sexuelle und/oder gastronomische Dienstleisterinnen bewähren dürfen. Und das Schönste: Man muss sie nicht mal mehr erobern. Durch die Wiedereinführung der guten, altislamischen Einrichtung der Heiratsvermittlung erledigt die Frauenbeschaffung jemand anderes, wobei allerdings die Gehaltsklasse des Freiers eine entscheidende Rolle spielt: Viel Kohle, viele Frauen. Beurteilt werden sie, wie bei Houellebecq ja bekannt und gehabt, ausschließlich nach der Qualität ihres Bindegewebes, solange sie jung sind; nach ihren Kochkünsten, wenn sie alt und schlaff geworden sind.

"Unterwerfung" ist ein Roman über die Befreiung vom Intellekt

Darum: "Fuck you, autonomy", ruft der Held am Ende fröhlich aus, was soll die blöde Selbstbestimmung, die olle intellektuelle Distinktion, der ganze Zirkus mit der liberalen Sexualität, die doch auf die Dauer nur einsam und unglücklich macht. Selbstaufgabe, gebildet gesprochen: sacrificium intellectus, heißt die Parole. Und die ist natürlich ein alter Bekannter. Nicht nur, was das Werk von Michel Houellebecq angeht. Von den Romantikern bis zu den Décadents ist das Opfer des Geistes ein Kardinalthema des 19. Jahrhunderts. Und aus diesem Urschlamm stammt im Grunde dieser Roman.

Die Parallele zu Joris-Karl Huysmans, die François beständig zwischen sich und dem fernen Dichter zieht, in ästhetischer, religiöser, lebensweltlicher und sogar sexueller Hinsicht, macht es überdeutlich: Dies ist ein Intellektuellenroman, genauer: ein Roman über die Erlösung von der Intellektualität, Vereinzelung, sozialemotionalen Kälte, die sich aus der Existenz als frei schwebender Geistesmensch ergeben kann. Die Utopie, die schon Huysmans ausfantasiert, vor allem in seinem großartigen Roman "En Ménage" von 1881, der Leib- und Magenlektüre von François, die Utopie lautet bei Houellebecqs Gewährsmann: "flämische Glückseligkeit, die nur einen vollen Bauch und warme Füße braucht". Und heraufführen tut diese Utopie "eine reife, ruhige, ergebene Frau". Dem kann sich François nur anschließen, wenngleich er als Libertin des islamischen 21. Jahrhunderts auf eine zusätzliche Frau von 15 Jahren und daher mit anderen Vorzügen nicht verzichten würde.

Zugegeben, diese Utopie trägt regressive, um nicht zu sagen pubertäre Züge. Auch darin bleibt Houellebecq sich treu. Seine Bücher sind immer auch krude Männerfantasien. Doch wie er sie hier amalgamiert mit Scherz, Satire, Ironie im Hinblick auf Frankreichs Zustände, um alldem die tiefere Bedeutung einer Erlösungsfantasie zu geben, das macht "Unterwerfung" zu einem grandiosen Buch.