Politik

"Charlie Hebdo"

11.01.15

Überlebt, weil er unpünktlich war

"Charlie Hebdo"-Zeichner Bernard Willem Holtrop überlebte den Anschlag nur, weil er zu spät zur Redaktionskonferenz kam. Nun arbeitet er an der nächsten Ausgabe. Ein Gespräch über Trauer und Freiheit.

Zur Startseite
Von François Duchateau

Um drei Uhr klopfte es Samstagnacht an seiner Tür. Als Bernard "Willem" Holtrop aufmachte, sah er vier Polizisten. Ob er Leibwächter wünsche, fragten sie. Nein, lachte er, das habe keinen Sinn. "In einem Polizeistaat möchte ich nicht leben."

Seit Mittwoch ist der niederländische Zeichner, der in Frankreich vor allem unter seinem Zweit- und Künstlernamen Willem bekannt ist, der letzte "Charlie Hebdo"-Mitarbeiter der ersten Stunde. Als die Terrorbrüder Cherif und Said Kouachi in den Redaktionsräumen des Satiremagazins zwölf Menschen ermorden, saß der 73-Jährige noch im Zug Richtung Paris.

Am Pariser Hauptbahnhof fielen ihm die Zeitungsstände ins Auge, denen er sonst keine Beachtung schenkt. "Das war ein seltsames Gefühl, dort die Comichefte sehen und kaufen zu können, mit den Zeichnungen über Islamisten, die solche Anschläge verüben", sagt er im Gespräch mit der "Welt". In der "Charlie Hebdo"-Ausgabe vom 7. Januar 2015 ist auch ein Beitrag von Willem enthalten. Auf Seite 13 ist die Zeichnung einer Dschihadisten-Mutter zu sehen, die von ihrem eigenen Kind geköpft wird. Solche Witze machen sie halt bei "Charlie Hebdo", sagt er. "Manche Leute regen sich darüber auf. Ein Grund aufzuhören ist das aber nicht."

Dass er für sein "Zeichnen von Unsinn" ein Leben in Gefahr in Kauf nehmen müsse, war dem 73-Jährigen stets bewusst. "Ein Leben in Angst war es deshalb aber nicht", sagt er. Ganz im Gegensatz zum erschossenen Herausgeber Stephane "Charb" Charbonnier, "der stets ein, zwei Leute um sich herum hatte, auch wenn wir einen trinken gegangen sind", habe er nie Personenschützer in Anspruch genommen. "Wenn sie dich umbringen wollen, finden sie schon eine Möglichkeit", sagt er trocken.

Holtrop spricht nicht wie jemand, den die brutale Bluttat erschüttert hätte. Er schaut nach vorn und versucht, wieder Normalität einkehren zu lassen. Eine Sache allerdings stimmt den Niederländer nachdenklich: "Die Attentäter wussten scheinbar sehr gut über die Redaktionsabläufe Bescheid und konnten so größtmöglichen Schaden anrichten. Woher?"

Nach dem letzten Anschlag mit Molotowcocktails auf die "Charlie Hebdo"-Büroräume im Jahr 2011 wurde das Team über einer örtlichen Polizeistation am Rande von Paris untergebracht, erzählt Holtrop: "Da war es natürlich sicher." Erst seit ein paar Monaten hatte das Magazin wieder eine neue Adresse. "Damit lockerten sich natürlich auch die Sicherheitsvorkehrungen." Aber im Team habe das Gefühl etwas abgenommen, akut bedroht zu sein. Und außerdem: Als anarchistisches Blatt über einer Polizeistation weiterzuarbeiten, das sei ja schon fast Satire.

Zu Hause, da fühlt er sich sicher. Willem wurde am 2. April 1941 in Ermelo geboren, 70 Kilometer östlich von Amsterdam. Seit 1968 ist Frankreich seine Wahlheimat. Dorthin zog Willem, nachdem er 1966 Königin Juliana als Prostituierte in einem Amsterdamer Schaufenster dargestellt und für einen Skandal gesorgt hatte. Wegen Majestätsbeleidigung wurde er damals zu einer Geldstrafe verurteilt. Ende der 60er-Jahre schloss er sich mit den "Charlie Hebdo"-Kollegen zusammen. Mit seiner Frau lebt er mittlerweile in der Bretagne. In die Hauptstadt fährt er nur, wenn es sein muss.

Seine notorische Unpünktlichkeit rettete ihm am 7. Januar das Leben. Holtrop ließ sich an diesem Morgen sogar besonders viel Zeit. "Normalerweise schwänze ich die wöchentliche Redaktionssitzung, die ist für gewöhnlich sehr langweilig. Ich muss nicht bei jedem Meeting dabei sein." Auch nicht jetzt, wo "Charlie Hebdo" neu aufgerichtet werden muss? Vielleicht werde er in nächster Zeit wieder regelmäßiger vorbeischauen, sagt er, überlegt kurz und murmelt: "Aber das muss auch nicht sein."

Holtrop liegen Melancholie und Trauer fern. Zur Beerdigung seiner Kollegen werde er wohl nicht gehen. Trauerfeiern seien nicht seine Sache. "Natürlich habe ich nicht nur gute Kollegen, sondern auch Freunde verloren", sagt er, aber es falle ihm schwer mitzuteilen, was der Tod seiner Kollegen in ihm hinterlassen hat. "Ich bevorzuge es, mich mit dem Stift auszudrücken."

Zwei Tage nach dem Anschlag veröffentlicht Willem für die französische "Libération", einer seiner weiteren regelmäßigen Auftraggeber, eine Schwarz-Weiß-Zeichnung. Vor einem großen, vermummten, ratlosen Terroristen ist ein kleiner Zeichner zu sehen, der "Charlie Akbar" ruft, in Anlehnung an "Allahu Akbar" (Gott ist größer), was die radikal-islamischen Terrorbrüder während ihres Massakers riefen.

So klein, wie den Zeichner in "Libération", machen sich Holtrop und seine Kollegen jedoch nicht. Der Niederländer ist bereits versunken in das nächste "Charlie Hebdo"-Heft. "Jetzt erst recht", lautet sein Motto. "Das Blatt wird überleben", sagt er selbstsicher. "Natürlich wird die kommende Ausgabe noch unter dem Eindruck der Ereignisse stehen." Vor allem der kreative Geist der Überlebenden werde die Stimmung ausmachen. "In Zukunft werden wir frische Kräfte brauchen."

"Wir haben unsere besten Talente, wahre Genies verloren", beklagt er den Tod von "Charb", Jean Cabut ("Cabu") und Georges Wolinski. "Lange haben wir zusammengearbeitet. Gute Nachfolger zu finden, wird alles andere als leicht sein." Er hat in den ersten Gesprächen mit den Kollegen gemerkt, "das alles erst noch richtig verarbeitet werden muss. Dieser Anschlag hat ein Riesenloch gerissen. Es wird nicht mehr sein wie vorher, aber es muss und wird weitergehen." Unbeirrt werde die Redaktion ihren Weg weiterverfolgen, vielleicht sogar noch konsequenter als je zuvor, sagt er.

Zuletzt druckte "Charlie Hebdo" etwa 60.000 Hefte pro Woche, am Mittwoch wird es eine Millionenauflage sein. Google, der britische "Guardian" und der französische Presseverband sagten finanzielle Unterstützung im je sechsstelligen Euro-Bereich zu. "Libération" stellt redaktionelle Räumlichkeiten zur Verfügung. Gerade wegen der enormen Aufmerksamkeit der ersten Ausgabe nach den Anschlägen ist es Willems ausdrücklicher Wunsch, dass nicht nur die Anschläge eine Rolle darin spielen, sondern auch weitere Tagesaktualitäten Platz finden.

"Das wäre ein Zeichen in Richtung Normalität und auch, dass Meinungsfreiheit sich nicht einschüchtern lässt. So wichtig sollten wir uns nicht nehmen, dass wir uns öffentlich ausschließlich mit Interna beschäftigen." Weiter, immer weiter, so tickt der schrullige Willem. Auch er wird eine Arbeit für die kommende Ausgabe beisteuern. The Show must go on. "Das ist mein Beruf. Den Stift führen, das ist, was ich am besten kann."

Sein altes Mobiltelefon steht nicht still in diesen Tagen. Das Medieninteresse ist enorm, wie auch die internationale Welle der Solidarität, die Holtrop jedoch ambivalent beurteilt. "Wenn die Leute unter dem Slogan 'Je suis Charlie' auf die Straße gehen, dann tun sie das nicht für 'Charlie Hebdo'. Sie kannten uns vorher wahrscheinlich gar nicht", sagt er. "Ich denke, dass sie vielmehr für die Meinungsfreiheit aufstehen", das jedoch unterstütze er voll und ganz. "Es ist schön, solch eine Anteilnahme und Solidarität zu sehen. Es bestärkt uns in dem, was wir tun. Aber wir sollten diese Anteilnahme nicht auf 'Charlie Hebdo' beziehen, sondern auf die Werte, für die wir stehen."

Dass der Terror Frankreich verändert, hält Willem für möglich. "Wir haben religiöse Führer immer verspottet, uns immer über sie gestellt. Vielleicht haben die Taten die Gemeinschaft zum Nachdenken über religiöse Werte bewegt. Der Anschlag war in meinen Augen keiner gegen das Magazin 'Charlie Hebdo' an sich oder bestimmte Autoren, sondern einer auf die ganze Presse" – und damit auf die Freiheit. Sie wollen uns Angst machen, sagt Holtrop, "doch uns in einen Polizeistaat treiben, das werden sie nicht schaffen."