S.P.O.N. - Im Zweifel links: Deutschland, dein Elend ist die Mitte
Es gärt in Europa. Der politische Protest ist zurück, bei den Griechen, Italienern, Briten. Nur in der Bundesrepublik nicht. Hier ist die Demokratie eingeschlafen. Denn die Deutschen verwechseln Apathie mit Stabilität.
Eine Revolution ist im Gange. Eine große Umwälzung. Ob sie zum Guten oder zum Schlechten führt, ist noch nicht ausgemacht. Die Waffe dieser Revolution ist der Populismus. Ihr Medium ist das Internet. Wie jede Revolution hat auch diese ihre Ziele und ihre Opfer. Das Ziel ist die Erneuerung der Demokratie. Sie hat es dringend nötig. Das Opfer ist das politische System der Mitte. Wir sollten ihm nicht zu viele Tränen hinterherweinen. Noch spürt Deutschland, der schläfrige Riese im Herzen Europas, vom kommenden Sturm nur einen leisen Hauch. Aber hoffentlich bläst auch hier bald ein frischer Wind den Mehltau fort, der das politische System erstickt. Es ist der Mehltau der Mitte.
Die Mitte ist der Ort der politischen Korruption. Die Demokratie stirbt in der Mitte. Wir vergessen leicht: Mit der reinen Demokratie haben wir es im Westen ohnehin nicht zu tun. Sondern mit gemischten Staatsformen, in denen die Macht von Repräsentanten des Volkes und einer neuen Aristokratie gemeinsam ausgeübt wird. Das erfordert eine feine Balance. Aber eine aristokratische Elite in Firmen, Finanzen und Verwaltung entzieht sich mehr und mehr der demokratischen Kontrolle.
Der französische Konservative Philippe Séguin hat gesagt: "Dort wo die Demokratie existiert, wird immer weniger entschieden und umgekehrt, dort, wo immer mehr entschieden wird, ist keine Demokratie mehr."
Es sind die Politiker der Mitte und ihr Argument der Alternativlosigkeit, die der Demokratie das Leben austreiben. Selbst ein konservativer Denker wie Herfried Münkler räumt ein, dass die Dominanz der Mitte im deutschen Parteiensystem zu einer Einschränkung der politischen Programmatiken führe: "Man kann auch von einer politischen Horizontverengung sprechen."
Aufstand der Ohnmächtigen
Ja, die deutsche Politik hat einen zu engen Horizont. Unter dem bleiernen Himmel der "Alternativlosigkeit" erstickt die Demokratie. Wenn das Volk von einem Machtwechsel immer weniger hat, dann bleibt ihm nur, der Politik den Rücken zu kehren oder sich gegen die ganze Politik zu wenden. Beides geschieht.
"Man spürt, irgendwas läuft schief im Land, obwohl doch alles so gut läuft", hieß es vor einiger Zeit in einem Leitartikel der "Zeit". Ein vielsagender und trauriger Satz. Es will schon was heißen, wenn selbst das Leitmedium deutscher Selbstzufriedenheit das wachsende Unbehagen konstatiert, das sich im Bürgertum breitmacht.
Neulich hat sich die "Zeit" über die Satireformate im deutschen Fernsehen entrüstet. Sie würden "Skandallust und Medienfrust mit enormem Erfolg bedienen" und so "Abscheu und Misstrauen" gegen das System steigern. "Satire darf alles", sagt die "Zeit", "klar, sie darf böse sein, einseitig, zynisch. Aber wenn sie vom Rand der Debatte in deren Mitte rückt, sagt das viel über die Gesellschaft." Mehr als die Feststellung der Symptome ist aber auch hier nicht drin.
Bislang gelingt es in Deutschland nicht, die Unzufriedenheit in produktive Politik umzumünzen. AfD und Pegida sind der Aufstand der Ohnmächtigen, die Renaissance des Ressentiments. Da wird das "Nein" zur einzig schöpferischen Tat. Und das Netz, das anderswo zur Quelle des Protests wurde, hat in Deutschland nur das gescheiterte "Piraten"-Projekt hervorgebracht.
Die Kraft des Netzes
In Griechenland und Spanien sind dagegen neuartige, progressive linke Bewegungen gewachsen. Und in England geschieht gerade Unerhörtes: Die Labour Party könnte im September einen richtigen, echten Linken zum Chef wählen. Einen Mann, der keine Atomwaffen mag, der die Nato ablehnt, der Schulden nicht für den Weg des Teufels hält und Privatisierungen nicht für den Weg des Heils.
Einen Mann, der sich auch äußerlich von den Anzughelden moderner, europäischer Mitte-Parteien unterscheidet: Jeremy Corbyn trägt Schrubbelbart und Cordhosen und sieht aus wie ein Sozialkundelehrer. Seit Jahrzehnten sitzt er im Parlament, nie hat er irgendeinen wichtigen Posten bekleidet, aber immer wenn die englischen Sozialdemokraten irgendeine Schweinerei des Establishments mitgemacht haben, egal ob Krieg oder Privatisierungen, war Corbyn dagegen. Das Netz liebt ihn. "Der Hashtag #JezWeCan wird auf Twitter gerade alle 25 Sekunden benutzt", hat der "Guardian" gerade geschrieben.
Victor ist ein Liberalkonservativer. "Die Antipolitischen" heißt sein Essay, in dem er das Entstehen neuer politischer Kräfte aus dem Netz beklagt. Und das Netz mit seinem rauen Ton, mit seinen Möglichkeiten der Teilhabe, mit seinen Risiken der Manipulation ist den Konservativen ein Graus.
Die Populismus-Sirene ist der Alarm, den das konservative Establishment im Angesicht der neuen Bedrohung schlägt. Aber das ist ein Missverständnis. Denn der Populismus setzt die Kraft frei, die zur Erneuerung des beschädigten Systems notwendig ist. Die Politiker der Mitte verstehen nicht, was geschieht. Und sie fühlen es nicht.
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Jakob Augstein, Jahrgang 1967, ist seit 2008 Verleger der Wochenzeitung "Der Freitag". Augstein hat vorher für die "Süddeutsche Zeitung" und die "Zeit" gearbeitet. "Der Freitag" steht für kritischen Journalismus aus Politik, Kultur und Gesellschaft. Er experimentiert mit neuen Formen der Leserbeteiligung und der Verknüpfung von Netz und Print. Die Gestaltung des Layouts vom "Freitag" wurde bereits vielfach ausgezeichnet, unter anderem durch den Art Directors Club, die Lead Awards, den European Newspaper Award und die Society for News Design.- Jakob Augstein auf Facebook
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