Selfie-Sucht: Egoshooter
Ich vor dem Eiffelturm, ich vor der Kathedrale, ich am Strand: Das Selfie ist die populärste Fototechnik der Gegenwart. Es verändert unseren Blick auf die Welt, weil wir ihr permanent im Weg stehen. Dabei geht uns die Perspektive verloren.
"Frank", sagte vor ein paar Tagen mein Freund Wolfgang zu mir. "Meine Lisa war ja jetzt in London, ne? Die hat mir ihre Fotos gezeigt, über 700 in einer Woche. Und ich sag dir", seine Stimme hebt sich, "das musst du mal gesehen haben: Da ist sie fast überall drauf! Die hat hunderte Selfies gemacht!"
Aber man sieht die Generation Selfie, überall. Leute mit oder ohne Stange, die der Landschaft, der Sehenswürdigkeit oder dem, was man früher dafür gehalten hat, den Rücken zudrehen. Der Berg, die Stadt, das Meer werden zur Kulisse einer Szene, die nur noch eines sagt: ich.
Und ich und ich und ich.
Rückblende in eine andere Ära: Ich bin noch jung, meine Kinder sind noch klein. Wir reisen, und wie immer bin ich der Dokumentar. "Och", sagt meine Tochter, "tu doch endlich die Kamera weg!"
Die Kids werden nicht gern fotografiert, ich mache das heimlich. Am Strand, in den Bergen, in der Stadt. Es sind unterschiedliche Szenen, und oft sieht man meine Lieben darin nur klein, von hinten oder gar nicht: Die meisten meiner Fotos zeigen Landschaft, Sehenswürdigkeiten oder Szenen des Beisammenseins. Nur ich bin fast nie dabei, bin unsichtbar - klar, ich halte ja die Kamera.
Ein Foto ist ein Anker der Erinnerung
Meine Frau fotografiert so gut wie nie. Das, was man sieht, kann man nicht einfangen, sagt sie. Und meint: Berge oder Meer zu fotografieren funktioniere nicht, weil man die Wärme nicht spürt, den Wind nicht riecht, die Weite und Größe und das Gefühl des Daseins nicht einfangen kann.
Das kann nur der Kopf, der sich erinnert an die Eindrücke der Sinne, an die Bewegung in diesem Raum. An die Geräusche, an das Gefühl, das die Begegnung mit dem Schönen, Beeindruckenden, Lustigen oder Beängstigenden vermittelte.
Man nimmt das nur wahr, wenn man sich auf diese Emotionen und Eindrücke einlässt, die sich einstellen, wenn man irgendwo ist, wo man sonst nie ist. Es ist ein Raum, der weit mehr als nur drei Dimensionen hat und manchmal sogar nachwirkt: Dann wird er zum Traum-Raum, der uns im Schlaf begegnet, oder zum Sehnsuchtsort, an den wir in Tagträumen zurückkehren wollen. Ein Foto sei nichts, sagt meine Frau, außer einem Anker für die Erinnerung an das, was besonders war.
Das Selfie ist da einfacher gestrickt. Es ist immer das gleiche Bild vor wechselnder Kulisse.
Kürzlich berichtete die Satireseite Postillon: "Mann erfindet Doppel-Selfie-Stange, um sich beim Selfie-Fotografieren filmen zu können". Das ist lustig, weil man inzwischen geneigt ist, es für möglich zu halten. SPIEGEL ONLINE berichtete kürzlich über einen "Selfie-Arm", mit dem ein "einsamer Tourist Fotos schießen kann, die wirken, als wäre er gar nicht allein". Statt einer Stange hält man auf dem Selfie dann eine Hand, die sich quer durchs Bild dem Fotografierten entgegenstreckt. Die Website Selflessie propagiert den Versand von Fotos ohne Selbstporträt - sie werden durch schwarze, egolose Silhouetten ersetzt.
Wir wissen, dass das alles eigentlich Ironie ist, Satire. Aber wir wissen auch, dass es gekauft würde, wenn man es auf den Markt brächte.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich werfe dem Selfie-Völkchen seine Selbstbezogenheit nicht vor. Manchmal bin ich sogar neidisch, wie souverän und locker die sich in Szene setzen. Ich sehe auf Fotos immer doof aus oder steif oder als ob man nach mir fahndete. Ich kann das nicht, dieses Mich-in-Szene-Setzen, und manchmal empfinde ich es wirklich als Mangel.
"Sei doch mal locker, lächele doch mal!"
Wie jetzt, vor der Kamera?
Wenn man den Menschen als das einzig Wesentliche begreift, bildet die Generation Selfie den besser ab als wir, die das nicht können. Dafür müssen die Selfies mit einem anderen Mangel leben: Sie stehen vor der Welt.
Die Generation Selfie verpasst die Welt hinter sich.
Das ist es, was mich stört.
Tausend Fotos, ein Gefühl: Spaß
Das Selfie entwertet den Ort, weil es den Fokus der Sinne auf das Selbst verschiebt. Es ist der ultimative, die Perspektiven verzerrende Paralaxenfehler. Es ist Ausdruck eines Wandels der Selbst- und Weltwahrnehmung.
Denn es verändert ja auch das Erleben der Welt, weil die vom Objekt der Aufmerksamkeit zur bloßen Kulisse wird. Der Selfie-Fotograf wählt Position und Perspektive danach aus, wie sie zur Selbstdarstellung taugen. Der Hintergrund ist sekundär und austauschbar.
Das Selfie trivialisiert damit alles: den Moment, das Gefühl, den Ort.
Das Selfie reduziert auch andere Menschen zur Kulisse. Selbst das Foto mit Berühmtheiten, von jeher die ultimative Trophäe des Fans, dokumentiert keine Begegnung mehr. In der Mitte steht der, der das Handy hält: "Hey, wer ist denn die Blonde da neben dir? Cameron Diaz?"
Worauf ich wohl vergeblich warten werde, ist ein Selfie anderer Art. Ein junges Gesicht, das beeindruckt auf Berg oder Brandung sieht, träumerisch hinaus in die Weite, gerührt, geängstigt oder versonnen. Es wäre zwangsläufig ein Bild, auf dem man einen Hinterkopf sähe. Augen, Nase, alle Sinne der Welt zugewandt. Es wäre ein Selfie, das wirklich sagen würde: Sieh her, ich war dort.
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- Satrie-Seite Postillon: "Mann erfindet Doppel-Selfie-Stange, um sich beim Selfie-Fotografieren filmen zu können"
- Selflessie.de: Nachrichten ohne "Ich"
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