06.06.2015

Kino Es geht um Macht und Sex

Von Beier, Lars-Olav

Netflix-Vorstand Ted Sarandos erklärt den Erfolg seiner Fernsehserien wie "House of Cards", den Niedergang des klassischen Filmgeschäfts und die Zukunft der Unterhaltung.

Die Schauspielerin Jane Fonda saß ihm zu Füßen und applaudierte begeistert, der Produzent Harvey Weinstein stemmte seinen wuchtigen Körper aus dem Sessel und hielt eine minutenlange Lobrede auf ihn. Ted Sarandos, beim Internetkonzern Netflix für Einkauf und Produktion von Serien und Filmen verantwortlich, war im Mai der größte Star bei den Festspielen von Cannes.

Wohl auch deshalb, weil es in der Filmbranche viele Menschen gibt, die Angst vor ihm und seiner ebenso erfolgreichen wie aggressiven Firma haben. Netflix, das seinen Abonnenten Serien und Filme online zur Verfügung stellt, drohe das "Ökosystem des europäischen Kinos" zu vernichten, wurde Sarandos bei einer Podiumsdiskussion im Festivalpalais vorgeworfen.

Innerhalb weniger Jahre ist der Streaming-Dienst, der 1997 im kalifornischen Los Gatos als Online-Videothek gegründet wurde, zu einem der wichtigsten Player in der Film- und Fernsehindustrie aufgestiegen. Über 60 Millionen Abonnenten hat Netflix bereits, im vergangenen Jahr machte das Unternehmen einen Umsatz von 5,5 Milliarden Dollar. Nun startet es einen Generalangriff auf Hollywood.

Netflix, das Fernsehserien wie "House of Cards" und "Orange Is the New Black" produziert, will in Zukunft auch Filme herstellen. So wird die Fortsetzung des Oscargewinners "Tiger and Dragon" zeitgleich auf Netflix und in ausgewählten Kinos zu sehen sein.

Bislang haben Kinos das Monopol, neue Filme einige Monate lang exklusiv zu zeigen, bevor sie auf DVD herauskommen und schließlich im Fernsehen laufen. Nun sehen sich die Filmtheater durch Netflix in ihrer Existenz bedroht. Über drei Milliarden Dollar will Sarandos in diesem Jahr in Filme und Serien stecken. Spätestens in zwei Jahren soll Netflix den Weltmarkt beherrschen und in 200 Ländern vertreten sein. Sarandos denkt und handelt global.

Der 50-Jährige kam in Phoenix, Arizona, zur Welt und arbeitet seit 15 Jahren für Netflix. 2013 zählte ihn das "Time"-Magazin zu einem der hundert einflussreichsten Menschen der Gegenwart. Im Interview mit dem SPIEGEL wirkt er sehr entspannt, er redet mit einer markanten, dunklen Stimme, die an George Clooney erinnert.

SPIEGEL: Mr Sarandos, sind Sie ein Erlöser oder ein Zerstörer?

Sarandos: Weder noch. Ich sage nur klar, dass wir am Anfang einer neuen Ära stehen und sich vieles ändern wird. Das Internet hat die Unterhaltungsindustrie nahezu komplett umgekrempelt. Bis auf die Filmbranche. Sie beharrt weiterhin darauf, dass Filme zunächst exklusiv im Kino laufen. Dieses Modell hat keine Zukunft.

SPIEGEL: Warum nicht?

Sarandos: Weil das Kino seine gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung sonst komplett an das Fernsehen verlieren wird. Dieser Prozess hat schon begonnen und beschleunigt sich. Die Menschen reden heute auf Partys über TV-Serien statt über Kinofilme. Woran liegt das?

SPIEGEL: An der Qualität der Serien?

Sarandos: Ja, aber auch daran, dass die Zuschauer selbst entscheiden können, wann und in welcher Form sie sich die Serien anschauen, ob in einzelnen Folgen oder an einem Stück. Wenn Sie am Sonntag eine ganze Staffel von "House of Cards" gesehen haben, wollen Sie mit Ihren Freunden darüber reden.

SPIEGEL: Ist das beim Kino so viel anders?

Sarandos: Wenn Sie irgendwo in der Provinz wohnen, können Sie gar nicht mitreden. Denn Sie müssen unter Umständen wochenlang warten, bis ein Film dort im Kino läuft. Das ist nicht mehr zeitgemäß.

SPIEGEL: Die Zuschauer sollen die Wahl haben, jederzeit alles sehen zu können? Ist das Ihr Modell?

Sarandos: Genau, denn die Zuschauer wollen sich nicht mehr von Fernsehsendern oder Filmstudios vorschreiben lassen, was sie sehen und wann sie es tun. Die Menschen übernehmen heute mehr und mehr die Kontrolle über ihre Freizeit. Früher mussten wir alle um 20 Uhr zu Hause sein, um die neueste Folge einer Serie zu sehen. Das ist vorbei. Früher mussten wir eine Woche lang auf die nächste Folge warten. Auch vorbei. Und noch etwas spricht für die Serien: Es sind komplexere Plots und Figuren denkbar, es gibt viel mehr Variationsmöglichkeiten. Schon heute haben unsere Serien keine Standardlänge mehr. Bei "Arrested Development" war die längste Folge 37 und die kürzeste 21 Minuten lang. "Mad Men" wäre noch vor ein paar Jahren fast eingestellt worden, weil sich der Sender und die Produzenten nicht auf eine Länge einigen konnten. Völlig absurd. Möglicherweise werden Serien in Zukunft gar nicht mehr in einzelne Episoden unterteilt sein. Das Fernsehen wird ganz neue Erzählformen entwickeln.

SPIEGEL: Immer mehr Filmregisseure drehen TV-Serien für Netflix, erst David Fincher, jetzt die Wachowski-Geschwister. Werben Sie Hollywood die Leute ab?

Sarandos: Wir bieten ihnen neue Möglichkeiten. Nehmen wir die Wachowskis. Vor gut drei Jahren haben sie ihren Film "Cloud Atlas" gedreht, in dem sie sechs Geschichten erzählen, die zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten spielen. Das ist zwar erstaunlich gut gelungen, doch als Serie hätte es noch viel besser funktioniert. Und so haben die Wachowskis für uns nach einem ähnlichen Konzept die Serie "Sense8" gedreht.

SPIEGEL: Sie spielt rund um den Globus.

Sarandos: Ja, an neun verschiedenen Schauplätzen. Wir erzählen eine wahrhaft weltumspannende Geschichte, aber die Zuschauer sollen das Gefühl haben, dass die Figuren dort verwurzelt sind, wo sie leben. Deswegen haben wir Künstler aus den jeweiligen Ländern verpflichtet, die Berlin-Szenen etwa hat Tom Tykwer inszeniert.

SPIEGEL: George Lucas und Steven Spielberg prognostizierten vor zwei Jahren, dass in Zukunft pro Jahr nur noch höchstens ein Dutzend Blockbuster ins Kino kommen und alle anderen Filme im Internet laufen werden. Wie weit sind wir von dieser Vision entfernt?

Sarandos: Wir gehen in diese Richtung, wie schnell, wird sich zeigen. Es gibt in dieser Branche sehr langfristige Verträge. Das verlangsamt alles enorm. Aber manchmal passiert etwas über Nacht, und alles ändert sich. Denken Sie nur ein paar Monate zurück, als die Nordkorea-Satire "The Interview" wegen Terrordrohungen nur in wenigen Kinos lief. Zeitgleich wurde sie im Internet über mehrere Onlinedienste angeboten und brachte dort in nur vier Wochen rund 40 Millionen Dollar ein. Das hat viele in der Branche überrascht.

SPIEGEL: Sie sehen es als Fortschritt an, dass sich das Kino ins Internet verlagert. Spielberg und Lucas dagegen sprachen von einer "Implosion".

Sarandos: Wir schaffen neue Märkte, das ist gut für alle. Es kommen zu viele Filme

ins Kino, die sich gegenseitig die Zuschauer wegnehmen. So ist es heute nahezu unmöglich, einen Film mit einem Budget zwischen 10 und 20 Millionen Dollar zu machen, der für den Produzenten Gewinn abwirft. Das meiste von dem, was diese Filme einspielen, bleibt bei den Kinos und Verleihern hängen. Diesen Produzenten bieten wir eine neue Plattform.

SPIEGEL: In Zukunft wollen Sie nicht nur Serien, sondern auch Filme produzieren.

Sarandos: Ja, wir kaufen Filme, die bereits gedreht sind, wie etwa "Beasts of No Nation" über Kindersoldaten in Afrika. Wir geben aber auch Projekte in Auftrag. Wir stellen den Produzenten das Budget zur Verfügung, das sie brauchen, und zahlen ihnen noch einen Bonus obendrauf.

SPIEGEL: Wer soll in Zukunft noch ins Kino gehen, wenn immer mehr Filme exklusiv im Internet laufen?

Sarandos: Ich liebe das Kino und möchte auf keinen Fall, dass es verschwindet. Das wird es auch nicht. Natürlich ist es aufregend, einen Film wie "Avengers: Age of Ultron" auf einer riesigen Leinwand zu sehen, zusammen mit vielen Hundert anderen Zuschauern, die man alle nicht kennt. Aber mein Lieblingsfilm im vorigen Jahr war "Whiplash", die Geschichte eines jungen Schlagzeugers. Den Film habe ich bei mir zu Hause auf meinem Großbildschirm gesehen, und mir hat nichts gefehlt.

SPIEGEL: Macht Netflix die Menschen nicht faul?

Sarandos: Nein, wenn Sie am Samstagabend mit Ihrer Frau ausgehen und ein großes Spektakel auf der Leinwand sehen wollen, wird Netflix Sie nicht davon abhalten können.

SPIEGEL: Sie haben als junger Mann in einer Videothek gearbeitet. Was haben Sie dort über die Kunden und ihren Filmkonsum gelernt?

Sarandos: Dass sie ganz verschiedene Vorlieben haben, aber oft ziemlich berechenbar sind. Ich habe bei den Kunden bestimmte Muster entdeckt und dann versucht, ihnen Filme zu empfehlen. Manche Kunden haben extra auf mich gewartet, damit ich ihnen Tipps gebe. Wir hatten zum Beispiel ein paar Woody-Allen-Fans, allerdings so wenige, dass sich jede einzelne Videokassette eines Allen-Films nie amortisiert hat. Aber dieselben Kunden waren oft Vielgucker, ich konnte sie leicht überzeugen, sich andere Filme auszuleihen. Unterm Strich hat sich das gerechnet.

SPIEGEL: Kalkulieren Sie bei Netflix ähnlich?

Sarandos: Ja, wir ermitteln die Filme, die unseren Abonnenten vermutlich gefallen werden, und schicken ihnen Empfehlungen. Man muss die Kunden möglichst zielgenau ansprechen, das haben wir bei Netflix schon in den Neunzigerjahren begriffen, als wir noch ein DVD-Versand waren. Wenn man weiß, was die Kunden wollen, erspart man sich das Marketing. Und das Marketing ist das Teuerste am ganzen Geschäft.

SPIEGEL: Sie verlassen sich ganz auf Ihre Algorithmen?

Sarandos: Sie sind ein zuverlässiges Instrument, wenn man sie richtig einsetzt. Aber zuerst muss man wissen, wonach man suchen muss. Sonst geht man in der Datenflut unter. Vor einiger Zeit wollten wir mal herausfinden, wie gut amerikanische Komödien im Ausland laufen. Dabei entdeckten wir zu unserem Erstaunen, dass der Komiker Adam Sandler bei unseren Abonnenten weltweit extrem beliebt ist.

SPIEGEL: Mit Sandler haben Sie einen Vertrag über vier Filme abgeschlossen. Werden Sie noch weitere Stars an sich binden?

Sarandos: Ja, wir sind auf der Suche. Mit Leonardo DiCaprio haben wir bereits einen Vertrag über mehrere Dokumentarfilme geschlossen, die er für uns produzieren wird. Unsere Abonnenten lieben dieses Genre.

SPIEGEL: Die erste Serie, die Sie produziert haben, war "House of Cards", die in Washington spielt. Politik gilt im Kino und im Fernsehen als Kassengift. Haben Ihnen Ihre Algorithmen etwas anderes verraten?

Sarandos: Wir wussten, dass David Fincher ein Regisseur ist, der bei unseren Abonnenten sehr beliebt ist, ganz egal, in welchem Genre er arbeitet. Wir wussten auch, dass Kevin Spacey bei Netflix ein großer Star ist und dass er in Kombination mit Fincher sehr gut funktionieren würde.

SPIEGEL: Bleibt die unbeliebte Politik.

Sarandos: Ja, in der Tat, außer "The West Wing" liefen wenige Politserien gut. Doch "House of Cards" ist in Wahrheit ein Shakespeare-Drama, in dem es um Macht und Sex geht. Washington ist nur der Schauplatz dieses Dramas. Jetzt ist "House of Cards" ein weltweiter Hit, eine der meistgesehenen Serien in China, wenn man CNN glauben darf.

SPIEGEL: Und eine der meistgeklauten.

Sarandos: Wir sind jedenfalls stolz darauf, dass Menschen überall auf der Welt über "House of Cards" und "Orange Is the New Black" reden.

SPIEGEL: Glauben Sie, dass die Menschen weltweit das Gleiche sehen wollen?

Sarandos: Zu 80 Prozent, ja. Lokale Filme und Serien haben nach unseren Erkenntnissen weltweit nur 20 Prozent Marktanteil. Aber auch das ist eine ganze Menge. Deshalb arbeiten wir gerade an einer Serie, die in Marseille spielt. Allein unter unseren amerikanischen Abonnenten gibt es etwa eine Million, die Filme und Serien in französischer Sprache sehen wollen.

SPIEGEL: Sie operieren viel mit Daten über Ihre Abonnenten, veröffentlichen aber kaum Zahlen über Netflix, über den Erfolg Ihrer Serien etwa.

Sarandos: Wir veröffentlichen keine Zahlen, damit unsere Filme und Serien nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Fernsehsender müssen ihre Quoten bekannt geben, weil die Werbeeinnahmen davon abhängen. Bei uns gibt es keine Werbung. Also haben wir das nicht nötig.

SPIEGEL: Nicht mal die Produzenten und Regisseure bekommen die Zahlen?

Sarandos: Nein. Wir haben zwar eine vertrauensvolle Unternehmenskultur, aber wenn einer unserer Mitarbeiter Zahlen an die Öffentlichkeit geben würde, hätte er keine große Zukunft mehr.

Interview: Lars-Olav Beier

* Robin Wright, Kevin Spacey, Will Arnett, Jason Bateman.

DER SPIEGEL 24/2015
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