Geheimdienstgesetz verabschiedet: Frankreichs Senat stimmt für die Totalüberwachung

Von Stefan Simons, Paris

Protestseite Usual Suspects: "Wir wollen nicht im Alltag abgehört und ausspioniert werden" Zur Großansicht
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Protestseite Usual Suspects: "Wir wollen nicht im Alltag abgehört und ausspioniert werden"

Französische Geheimdienste bekommen per Gesetz umfangreiche Möglichkeiten zur Bespitzelung von Mobilfunk und Datenverkehr in dem Land. Internetaktivisten wie Bürgerrechtler befürchten ein Überwachungsregime nach NSA-Vorbild.

Für die Regierung ist das Gesetz überfällig: Die Sicherheitsdienste erhielten damit einen "legalen, schlüssigen und vollständigen Rahmen" für ihre Arbeit. Ziel des Regelwerks, laut Pressedossier: "Die Franzosen schützen, mit allem Respekt für ihre Freiheiten."

Manuel Valls, als Premier künftig im Herz des Informationsnetzes, sagt, dass nun ein effektiver Kampf gegen Terror und Kriminalität möglich sei. "Die Gefahren vorhersehen, aufdecken, analysieren und verstehen, nur so kann man die Sicherheit garantieren", sagt der Sozialist und zitiert den chinesischen General Sun Tzu: "Eine Armee ohne Spione ist wie ein Mensch ohne Ohren."

Doch Frankreichs Lauscher sind Bürgerrechtlern, Anwälten, Richtern und Verteidigern der Menschenrechte zu groß geraten. Sie rügen das Gesetz als Angriff auf die Grundwerte der Republik - Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Kontrolle der Exekutive. Damit drohe Bespitzelung nach NSA-Vorbild, die Ausforschung von politischen Gruppen, Gewerkschaften oder Protestbewegungen.

"Attentat auf die fundamentalen Freiheiten"

Dennoch gab der Senat mit 251 zu 68 Stimmen grünes Licht. Der Text geht noch einmal an den Vermittlungsausschuss, Ende des Monats ist das Arsenal staatlich gebilligter Spionage dann Gesetz. Unter dem Eindruck der Anschläge auf das Satire-Blatt "Charlie Hebdo" hatte das "Gesetz über die Geheimdienste" bereits die Nationalversammlung passiert - im "beschleunigten Beratungsverfahren."

Frankreichs zweite Kammer folgte dem Willen der Regierung, trotz aller Proteste. Frankreichs sechs verschiedene Dienste sowie Anti-Terrorbehörden der Polizei erhalten weitgehende Zugriffsmöglichkeiten auf die Privatsphäre. Bespitzelung ist ohne vorherige richterliche Anweisung erlaubt, eine simple Anfrage genügt. Erlaubt wird:

  • Die Verfolgung von Autos per Peilsender, das Ausspionieren von Wohnungen mit Mikrofonen, sowie Video- und Fotoaufnahmen
  • Die Überwachung von Handys per IMSI-Catcher, die Ortung von Mobiltelefonen und die Identifizierung von IP-Adressen im Internet - direkt und in Echtzeit
  • Die Sichtung von Metadaten in sogenannten Black Boxes, welche die Sicherheitsbehörden bei den Internet-Providern installieren; das Abfangen von Daten aus dem Ausland, die Frankreich durchqueren, inklusive
  • Daten und Informationen mit Algorithmen nach Schlüsselbegriffen zu filtern, um Terror-Verdächtige aufzuspüren

Vor allem das wahllose Absaugen an den Schaltstellen der Datenpipelines betrachten Gegner des Gesetzes als Angriff auf die Bürgerrechte. "Die Black Boxes, das ist die Büchse der Pandora dieses Gesetzes", schimpfte die sozialistische Abgeordnete Aurélie Filippetti. "Man sagt uns, dass die Masse der Angaben nur Metadaten sind. Aber sie enthalten zugleich Informationen über das Privatleben unserer Mitbürger."

Bürger als "Usual Suspects"

Das Kollektiv "Usual Suspects", ein Zusammenschluss engagierter Bürger, wettert: "Wir wollen nicht im Alltag abgehört und ausspioniert werden." Auf seiner Webseite zeigt es Fotos von unbescholtenen Mitgliedern, die sich gegenüber den Behörden ironisch und vorab schon mal als "übliche Verdächtige" outen.

Widerstand formiert sich nicht nur unter Internetaktivisten wie dem Verband der alternativen Service-Provider FFDN; auch kommerzielle Anbieter befürchten den Exodus von IT-Dienstleistern ins Ausland. Die Nationale Datenschutzbehörde (CNIL) und die Staatliche Beratungskommission für Menschenrechte (CNCDH) warnen vor einer Massenkontrolle und mangelnder Aufsicht von der Justiz, weil "repressive Maßnahmen künftig von den Polizeibehörden wahrgenommen werden, wo sie eigentlich von den Garantien eines Strafverfahrens begleitet sein müssten."

Dies gelte, zumal die Kriterien für die Horchaktionen den Geheimdiensten weiten Ermessensspielraum lassen. Außer Terrorabwehr zählen "wichtige außenpolitische Interessen" als Interventionsgrund, genauso wie die "Bewahrung wesentlicher Elemente von Frankreichs wissenschaftlicher oder wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit." Ein Gummi-Paragraph ist auch die Bedrohung durch "kollektive Gewalt, die geeignet ist, die öffentliche Ordnung zu stören."

Die Regierung beteuert, die neue Nationale Kommission für die Kontrolle von Geheimdiensttechniken (CNCTR) werde den Sicherheitsdiensten auf die Finger schauen. In Wahrheit ist der Einfluss des Gremiums begrenzt: Der Ausschuss hat nur "beratende Funktion", die Regierung kann sich "in Notfällen" über seine Einwände hinwegsetzen, rechtliche Einsprüche der Betroffenen sind so gut wie unmöglich.

Das Lauschprojekt hat eine breite Widerstandsbewegung provoziert, unter dem Motto: "Nein zur Massenüberwachung - 'Un-follow me'". Ein Manifest gegen "Big Brother", abgedruckt in der Zeitung "Le Monde", versammelte mehr als 110.000 Unterschriften. Um dem wachsenden Protest die Spitze zu nehmen, versprach Präsident François Hollande, er werde das Gesetz beim Verfassungsrat auf seine Rechtmäßigkeit überprüfen lassen.

Sollte das Gesetz dort gebilligt werden, wollen die Bürgerrechtler die nächste Instanz bemühen - Europas Gerichtshof für Menschenrechte.

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insgesamt 110 Beiträge
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1. Orwellsche Träume
bratwurst007 09.06.2015
Hallo Leser, durch Dein Lesen* dieses Beitrags stecke ich nun in Deiner Web-Cam. Schöne Wohnung! * Durch Nichtlesen auch.
2.
Moewi 09.06.2015
"(...)Ende des Monats ist das Arsenal staatlich sanktionierter Spionage dann Gesetz. Stimmen grünes Licht." "Stimmen grünes Licht." Was für ein herrlicher Auftakt für ein Gedicht. Bin ich hier im Kulturteil oder was? Löscht doch bitte das Satzende des Vorvorherigen Satzes nach dem Einschub ;o)
3.
quark@mailinator.com 09.06.2015
Boah ... schon erstaunlich, wie ein paar Verbrecher es schaffen, die gesamten westlichen Freiheiten auszulöschen. Man sollte sich keine Illusionen machen, sowas endet mit einer Art McCarthy-Ära ... Im Vergleich zu diesen Möglichkeiten verblassen die ehemaligen Schnüffeleien im Osten. Man kann die Jahre zählen, die man hier noch vernünftig leben kann. Naja, fast 100 Jahre, wesentlich länger war es in Europa ja noch nie schön an einem Ort.
4. Und wieder
dasistdasende 09.06.2015
ein Sieg für die Terroristen. Die Rechte der Bürger werden geopfert auf dem Altar der "scheinbaren" Sicherheit. Welche eine Illusion ist. Terroristen machen mir keine übermäßige Angst. Ein Überwachungsstaat schon. Als nächstes dann Deutschland ?
5.
ackergold 09.06.2015
Wer solche Gesetze auch noch im beschleunigten Verfahren ohne Diskussion mit Kritikern und Experten einfach durchwinkt, der sollte eigentlich jedwede Chance auf Wiederwahl verspielt haben. Solche Leute würde ich niemals wählen.
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