25.04.2015

Mode Der It-Boy

Von Feldmann, Lisa

Der Australier Justin O'Shea hat aus der Website einer Münchner Boutique ein 150-Millionen-Euro-Unternehmen gemacht. Die Branche feiert ihn, als wäre er ein neuer Lagerfeld.

Vor dem weißen Festzelt in den Tuillerien hat sich eine respektable Menschenmenge versammelt. Touristen auf dem Weg zum Louvre, aha, offenbar eine Modenschau, mal sehen, worauf die hier alle warten.

Fotografen und Schaulustige mit Smartphones bilden vor dem Eingang zum Zelt ein Spalier. Wer hier hindurchhastet, wird angestarrt, als gälte es, ein paar Verdächtige auszumachen. Namen werden gerufen. "Anna! Anna!" - Anna Wintour, die Chefredakteurin der amerikanischen "Vogue". "Nicky!" - Nicky Hilton, die Hotelerbin. "Giovanna!", "Elisabeth!", "Bianca!" - junge Damen aus Hochadel und Society.

Die Schreie sind laut, die Gerufenen bleiben stehen, posieren kurz, wenn man das so nennen kann, und weiter geht's ins Zelt. Am Ende dauert die eigentliche Show des Modehauses Valentino während der Pariser Modewoche gerade mal zwölf Minuten, aber das macht nichts. Draußen auf der Straße geht die Show weiter.

Ein Mann im dreiteiligen Maßanzug, gepflegter Hipster-Vollbart, die Haare aus der Stirn gegelt, erscheint, an seiner Seite eine Frau im Valentino-Minikleid und in Springerstiefeln, "Justin! Justin! Veronika!" Die beiden sollen sich küssen, er wirbelt sie ein paarmal um sich herum, die Menge johlt.

Justin O'Shea heißt der Mann, der hier umjubelt wird wie sonst Chefredakteurinnen, französische Designer-Legenden, New Yorker HipHop-Stars oder Schauspielerinnen aus Hollywood. Paparazzi verfolgen ihn, wenn er europäische Modenschauen besucht, Teenager in Peking erkennen ihn auf der Straße und shoppende Hausfrauen in der Münchner Innenstadt. Sein Look wird diskutiert in Mode- und Styling-Blogs, Fashion-Journalistinnen schreiben enthusiastische Porträts. Das Interessante daran ist, dass O'Shea einen für die Modebranche eher unglamourösen Beruf hat. Er ist Einkäufer für eine Website, die mytheresa.com heißt und von München aus Luxusmode in alle Welt schickt.

Einkäufer, das sind eigentlich die Leute in der Modebranche, die im Schatten der Öffentlichkeit agieren und sich eher um die Zahlen und das Marketing kümmern, es sind die Leute, die für den Umsatz sorgen müssen und nicht für ein paar hübsche Fotos oder neue Trends.

Yves Saint Laurent ist lange tot. Karl Lagerfeld fotografiert Katzen auf Opel-Kleinwagen. Der Rapper Kanye West hält sich für einen Modedesigner und seine Ehefrau Kim Kardashian für ein Supermodel. Das Modelabel Céline wirbt mit der New Yorker Schriftstellerin Joan Didion, die im Dezember 80 geworden ist. Fast alle großen Modehäuser verdienen ihr Geld eher nicht mit Mode, sondern mit Taschen und Parfums. Und wenn junge Frauen heute shoppen wollen, gehen sie nicht mehr in die Boutique, sondern ins Internet. Die Modewelt ist ziemlich durcheinandergekommen in den vergangenen Jahren.

So durcheinander, dass ein heterosexueller Australier, der mit Aborigines aufgewachsen ist und mal ein Rugby-Star werden wollte, heute ein Star ist, der It-Boy, dem die weibliche Modewelt zu Füßen liegt, der seine Anzüge in New York schneidern, seine Tattoos in London stechen lässt und derzeit in Berlin-Charlottenburg lebt, wo man ihn öfter auf einem Motorrad sieht.

Theresa ist eigentlich eine Modeboutique in München. Vor sechs Jahren suchten die damaligen Besitzer, das Ehepaar Christoph und Susanne Botschen, einen neuen Einkäufer, der die Website ihres Geschäfts in Schwung bringen sollte. Das Vorstellungsgespräch fand im Londoner Luxushotel Claridge's zur Tea Time statt. Es erschien ein 30-jähriger Bursche mit Lederjacke und unzählbaren Tattoos. Frau Botschen entschied: Der ist es.

Inzwischen verschickt das firmeneigene Logistikzentrum in Kirchheim bei München Luxusmode in alle Welt, bis zu 2500 Sendungen täglich an Kunden in 120 Ländern. Jahresumsatz des Unternehmens: 100 Millionen Euro. Im vergangenen Jahr verkauften die Botschens ihr Unternehmen an die amerikanische Nobelkaufhauskette Neiman Marcus für 150 Millionen Euro, weitere 50 Millionen sollen erfolgsabhängig vereinbart sein.

Gut eine Woche nach den Pariser Modenschauen steht Justin O'Shea im Mailänder Showroom von Stella McCartney. Er schaut die Kleiderständer mit der neuen Herbst-Winter-Kollektion durch, trifft eine Auswahl, die er sich dann von Models vorführen lässt. O'Shea kauft an diesem Nachmittag Waren im Wert von mehreren Hunderttausend Euro. Die Stimmung ist etwas angespannt, Komplimente werden ausgetauscht, man macht seit Jahren gute Geschäfte miteinander, "working together" nennt das O'Shea. Hier und da kritisiert er einen Preis oder fragt: "Die gibt es nicht in Schwarz?"

Wenn O'Shea freundlich fragt, ist das meist ein Befehl. Er kauft nicht nur ein, sondern drängt auch auf Änderungen bei den Entwürfen. Mal ist es die Höhe eines Absatzes, mal die Größe einer Handtasche. Sein Job ist es, unter den vielen Stücken der einzelnen Kollektionen diejenigen zu finden, die sich verkaufen lassen, und sein Job ist es auch, ungefähr einzuschätzen, wie oft sie das tun. O'Sheas Trefferquote gilt als legendär.

Frauenmode ist ein kompliziertes Geschäft. Wer kann schon vorher genau wissen, warum alle plötzlich diesen einen Schuh von Stella McCartney wollen und den anderen nicht? "Vielleicht nicht gerade diesen hier", sagt O'Shea, "aber so etwas gibt es: einen Schuh, den jedes Mädchen haben will, in Stockholm, in München oder in Dubai." Vorletzte Saison war es ein Stiefel von Saint Laurent. Geschnürt bis unters Knie, Wildleder, Siebzigerjahre-Stil. Er habe, sagt O'Shea, das Potenzial des Produkts auf Anhieb erkannt und großzügig eingekauft. Große Stückzahlen, bessere Preise. "Die Mädchen heute suchen nach sogenannten Key-Pieces, einzelnen Accessoires oder Kleidungsstücken, die beweisen sollen, dass die Besitzerin den aktuellen Trend begriffen hat."

Wahrscheinlich ist Justin O'Shea, der Rugby-Spieler aus Australien, so eine Art Feldforscher, der die Sitten und Gewohnheiten einer fremden Kultur ganz besonders gut erforscht und begriffen hat. Frauen täten sich schwerer in seinem Job, sagt O'Shea, weil sie häufiger nach dem eigenen Geschmack aussuchten. "Ein Mädchen, das gern Röcke trägt, wird immer mehr Röcke ordern als eines, das lieber Hosen trägt. Mir aber ist das gleich. Ich scanne die Welt um mich herum, auf Ausstellungen, in Hotelbars, an Flughäfen, und sehe, was sie gernhaben." Die Frage bleibt aber, warum der das kann, wo doch die meisten Männer in einer Boutique für Frauenmode in völlige Ratlosigkeit verfallen.

O'Shea kommt aus einem Dorf an der nördlichen Spitze Australiens. Sydney liegt mehr als 2800 Flugkilometer entfernt. Der Vater arbeitete in einer Bauxit-Mine, die Mutter unterrichtete gehörlose Aborigines-Kinder. Er wollte Sportler werden, Rugby oder Hockey, ging aber mit 21 nach Perth, wo er im Laden eines Kumpels Turnschuhe und Jeans verkaufte. "Mir war es eigentlich total egal, was ich verkaufte. Ich will einfach immer besser sein als die anderen."

Er ging nach Europa, zuerst Amsterdam, dann London. Als Vertreter von Modedesignern verkaufte er dort die Ware an Boutiquen. Als seine Eltern sich scheiden ließen, kehrte er nach Australien zurück, nach Nhulunbuy, weil der Vater allein nicht klarkam. "Er konnte nicht mal den Tisch decken." O'Shea arbeitete in der Mine, in der auch sein Vater arbeitete, fuhr große Trucks, um schließlich ein Jahr später nach Kuwait zu gehen, als Einkäufer für eine Boutiquenkette. "Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Was wusste ich von Marken wie Alberta Ferretti oder Gaultier? Meine erste Modenschau, die ich besuchte, war von John Galliano, ausgerechnet, ein Drama mit russisch-afghanisch-mongolischen Kostümen und Damen, die unter künstlichen Schneeflocken wandelten. Ich dachte, wo bin ich denn hier gelandet!"

Mode in Kuwait funktioniert nach anderen Gesetzen. Es gibt einen Markt dort für ausgefallene europäische Designer, die Mode wird privat getragen, auch öffentlich sind Kleider durchaus erlaubt, vorausgesetzt, die Beine sind bedeckt, was wiederum dazu führt, dass die Entwürfe angepasst werden müssen. O'Shea orderte in hoher Auflage und nahm sich das Recht, die Designer um Korrekturen ihrer Entwürfe zu bitten - mehr Saumlänge, weitere Schnitte, angepasste Hosenlängen. Und manchmal auch gleich ein ganz anderes Material.

Die Budgets der Damen aus der kuwaitischen Oberschicht sind unbegrenzt, und als Einkäufer ging es dort nicht darum, Trends zu erkennen und sie durchzusetzen, sondern sich an den Wünschen der Kundinnen zu orientieren. Kuwait war für O'Shea so etwas wie ein Zukunftslabor dafür, wie das Modegeschäft in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung funktionieren könnte.

Schon 2000, ausgerechnet in dem Jahr, in dem die New-Economy-Blase platzte, hatte die amerikanische Modejournalistin Natalie Massenet in London mit einem Eigenkapital von 1,25 Millionen Euro ein Start-up namens Net-A-Porter gegründet. Eine Art Amazon für Luxusmode: Designerkleidung in vielen Größen und allen Varianten, jederzeit bestellbar, in der Lunchpause genauso wie vor dem Schlafengehen. Die bestellte Mode wird verpackt wie ein liebevoll ausgesuchtes Geschenk. Man kann die Stücke anprobieren und vier Wochen lang überlegen, ob man sie vielleicht doch kostenlos zurückschickt.

Net-A-Porter wurde 2010 von der Schweizer Richemont-Gruppe für 392 Millionen übernommen. Nun wird Net-A-Porter mit einem italienischen Anbieter fusionieren und künftig an der Börse in Mailand gelistet. Der gemeinsame Jahresumsatz liegt bei 1,3 Milliarden Euro. Amazon soll zwei Milliarden Euro für eine Übernahme von Net-A-Porter geboten haben. Nun entsteht der größte Luxusmodeladen der Welt, der alle wichtigen und auch fast alle neuen Marken im Angebot hat, präsentiert in einem digitalen Schaufenster, in dem ständig alle Waren ausliegen, ein Geschäft ohne Öffnungszeiten.

Ganz so weit wie Net-A-Porter ist mytheresa.com nicht. Aber die Neiman-Marcus-Gruppe, zu der auch das New Yorker Nobelkaufhaus Bergdorf Goodman gehört, will vor allem im digitalen Handel wachsen. O'Sheas neuer Vorgesetzter war vorher der Pazifik-Asien-Chef von Ebay. Joshua Schulman, Leiter des Kaufhauses Bergdorf Goodman und verantwortlich für die internationalen Partner des Unternehmens, sagt: "Am Ende des Tages sind wir Händler. Unser wichtigstes Talent ist un-

sere Neugier auf die Welt um uns herum, die wir ständig filtern und auswerten. Und Justin hat den Mut, sich auf seinen Instinkt zu verlassen."

Der Höhepunkt der Valentino-Schau in Paris hatte passenderweise kaum etwas mit Mode, mit Kleidern zu tun. Stattdessen zeigten die Blogs und Presseberichte von der Schau nur den Auftritt der beiden Hollywoodschauspieler Ben Stiller und Owen Wilson, die zum Finale in pyjamaartigen Anzügen auf den Catwalk liefen. Hunderte Smartphones wurden in die Höhe gestreckt. Es wurde gejubelt und geklatscht, ein paar Pfiffe, immerhin.

Owen und Stiller waren 2001 die Hauptdarsteller in "Zoolander", einer bitterbösen und leicht irren Satire über die Modewelt, über den Wettstreit zwischen zwei männlichen Models und einem sinistren Zirkel von Modeschöpfern, die beschließen, den Premierminister Malaysias umzubringen, weil der die Kinderarbeit in seinem Land verbieten will. Im nächsten Jahr wird es eine Fortsetzung geben. Der Auftritt bei Valentino war wohl Teil des Drehs.

Schon im Film von 2001 hatten zahlreiche Berühmtheiten der Modewelt sich selbst gespielt: Tommy Hilfiger, Heidi Klum, Paris Hilton, Victoria Beckham, Tom Ford. Auch Karl Lagerfeld war damals dabei. Diesmal hat er abgelehnt. Wahrscheinlich ist ihm das dann doch alles etwas zu viel. Auch den Auftritt der beiden Schauspieler bei Valentino mochte er nicht.

Und Justin O'Shea? Findet das alles großartig. "Eine Marketingsensation!" Größtmögliche Aufmerksamkeit mit sparsamsten Mitteln, so ist das heute in der Mode.

* Nach der Valentino-Schau am 10. März.

DER SPIEGEL 18/2015
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