Die Welt
23.08.14

"Ich klaue beim Internet"

"Vier neue Nachrichten" heißt der Erzählungsband des New Yorkers Joshua Cohen. Ein Gespräch über die Vorbilder Platonow und Bernhard, echte und falsche Juden und Musil als HBO-Serie

Joshua Cohen wohnt am Rand von Brooklyn, in dem Stadtviertel Red Hook; ich wohne am Rand der Bronx, in dem Viertel Riverdale. Also beschlossen wir, uns in der Mitte zu treffen, das heißt: im Central Park. Joshua Cohen hatte mich in einer E-Mail gewarnt: Er sehe überhaupt nicht wie das mitgeschickte Foto aus. Das stimmte: keine Ähnlichkeit! Auf mich wartete ein beneidenswert junger, schlanker Mann mit Bartstoppeln und Brille, der in seiner rechten Hand eine Zigarette hielt. Uns beiden war kein Café in der Nähe eingefallen, darum gingen wir spazieren.

Beim Gehen sprachen wir als Erstes über das Klauen. Über die ethischen Grundprinzipien, die bei Plagiaten zum Tragen kommen, hatten wir schnell Einigkeit erzielt: Genies dürfen alles (Shakespeare hat wie wild Chroniken, Stücke von Kollegen und antike Plots geplündert), mittlere Talente müssen schon erkennbar ehrlicher sein, und schlechte Schriftsteller sind leider bis zum Tag des Jüngsten Gerichts dazu verdonnert, von ihren eigenen miesen Einfällen zu leben. So ungerecht ist die Welt! Nebbich! Aber bei wem lohnt es sich zu klauen? Bei wem – zum Beispiel – hat Joshua Cohen sich für seinen Band "Vier neue Nachrichten" bedient, der jetzt bei Schöffling auf Deutsch erscheint?

"Beim Internet", sagt er. Diese Antwort ist freilich unoriginell, denn just davon, vom Internet, handelt die erste und die letzte dieser Storys. Am Anfang begegnen wir einem jungen Mann, einem Drogenhändler, der die Dummheit begeht, sich in einer intimen Runde mit einer obszönen Heldentat zu brüsten und seinen Pass herumzuzeigen; tags darauf sieht er sich in einem Weblog an den Pranger gestellt. Leider gehört er einer Generation an, der es schwerfällt, zwischen der Wirklichkeit da draußen und der Wirklichkeit im Laptop zu unterscheiden, und so sind alle seine Versuche, diese öffentliche Bloßstellung zu unterbinden, irgendwo auf der Skala zwischen Dämlichkeit und totalem Wahnsinn angesiedelt; am Schluss muss er das Land verlassen.

In der letzten Geschichte landet ein einsamer Onanist aus New Jersey in der Stadt, in der alle Frauen wohnen, die er je in Internetschmuddelfilmchen gesehen hat – aber anders als in Nicholson Bakers fröhlichem Pornoroman "Haus der Löcher" sind diese Frauen nicht wirklich da; sie schweben nur als Geistwesen um ihn herum und können ihn nicht von seiner Einsamkeit erlösen.

Beim Internet also, schön. Und bei wem stiehlt Joshua Cohen außerdem noch? "Platonow", sagt er, ohne zu zögern. Andrej Platonow. Der russische Schriftsteller, der mit seinen Werken den Existenzialismus vorwegnahm; der Stalin kritisierte und trotzdem nicht in den Gulag kam. Sein berühmtester Roman, "Baugrube", ist eine tiefschwarzkomische Satire – sie handelt von Bauarbeitern, die ein Hochhaus für alle Proletarier bauen sollen, beim Wühlen im Erdreich aber gründlich vergessen, an welchem Projekt sie da gerade arbeiten.

Und es ist wahr: Just diesen Ton aus Witz und existenzieller Verzweiflung hört man auch bei Cohen immer wieder. Andere Einflüsse: Thomas Bernhard und Nabokov. "Dem Einfluss von Bernhard – diese langen Satzperioden – bin ich irgendwann entkommen, dem von Nabokov nicht", sagte Joshua Cohen mir. Aber das war später, als es angefangen hatte zu regnen und wir dann doch Zuflucht in einem Café gesucht hatten.

Vorher wollte ich von ihm wissen, wie es denn für ihn sei, in Berlin zu leben. Joshua Cohen lebte von 2001 bis 2007 dort, er war Korrespondent der traditionsreichen linken jüdischen Zeitung "Forward" (dem englischen Ableger der traditionsreichen linken jiddischen Zeitung "Forwerts"). Ach, gut habe es ihm gefallen. Allerdings hatte er kaum mit Einheimischen zu tun, er führte die typische Existenz eines "expat", eines Auslandsamerikaners, der nur von seinesgleichen umgeben ist. Seine journalistischen Arbeiten führten ihn häufig nach Litauen, nach Polen, in die Tschechische Republik, um aus erster Hand über das dortige jüdische Leben – und den dortigen Antisemitismus – zu berichten. "Wenn ich von solchen Ausflügen nach Berlin zurückkam, war das immer ein richtig heimeliges Gefühl."

Viel lieber redet Joshua Cohen aber über ein Thema, das ihm näher am Herzen liegt: Was wird das Internet mit der Literatur anrichten? Nehmen wir etwa den "Moby Dick" von Hermann Melville, das Lieblingsmonsterbuch jedes denkenden Menschen. Das Schönste am "Moby Dick" sind vielleicht die ausschweifenden Abschweifungen, in denen die Erzählung für ganze Kapitel auf der Stelle tritt: die Traktate über Walfangtechniken und Schifferknoten und die Farbe Weiß. Was wird aus solchen wunderbaren Erzählgirlanden, wenn das alles im Internet gegoogelt werden kann? Und was wird aus der schönen Gewohnheit der Dichter, auf Felsen des Irrtums prächtige Paläste zu errichten, wenn jeder fantasielose Dummkopf solche Felsen mit einem simplen Klick auf "Wikipedia" in die Luft jagen kann? Sie, Herr Shakespeare, Böhmen liegt gar nicht am Meer! "Das ist eine Entwicklung, vor der ich Angst habe", sagt Cohen. "Der Raum für die Fantasie wird immer kleiner."

Ich möchte nun aber doch noch einmal auf Berlin und Deutschland zurückkommen. Sein von vielen Kritikern hoch gelobter Roman "Witz", der auf Englisch 817 Seiten hat – die deutsche Übersetzung wird wohl über tausend Seiten lang sein – basiert auf folgendem komischem und verstörendem Einfall: Am Weihnachtsabend des Jahres 1999 fallen plötzlich alle Juden einer geheimnisvollen Seuche zum Opfer, nur die erstgeborenen Söhne bleiben übrig. Sie werden von einer mächtigen Verschwörung innerhalb der amerikanischen Regierung adoptiert, und am Ende lebt nur noch einer von ihnen, ein gewisser Benjamin Israelien. Gleichzeitig wird alles Jüdische zum letzten Modeschrei: Plötzlich laufen also Gojim mit Schläfenlocken herum und essen Mazzeknödelsuppe. In dieser Welt des Pseudojudentums wirkt der einzige echte Jude verstörend – auch deshalb, weil er so unreligiös ist. Eine weltweite Hetzjagd auf ihn setzt ein ...

Hat Joshua Cohen hier etwa seine Erfahrung mit Deutschland verarbeitet, wo man die toten Juden liebt, mit lebenden Juden aber große Probleme hat? "Klar doch", sagt er. Und dann erzählt er mir die Geschichte eines väterlichen Freundes, Überlebender mehrerer Konzentrationslager, der Konversionen zum Judentum nach 1945 einfach verbieten lassen wollte. Jener Freund habe sich immer mehr in seinen Fanatismus hineingesteigert, denn, so sagte er, seit dem Holocaust seien alle Konversionen zum Judentum aus dem falschen Grund erfolgt. Eines Tages stand Joshua Cohens Freund dann tatsächlich einem jüdischen Konvertiten gegenüber. Und sagte aus Herzenshöflichkeit kein Wort, sondern schüttelte ihm die Hand.

Von hier führt naturgemäß ein gerader Weg zu Joseph Ratzinger. Cohen gibt sich als ein Fan des Schattenpapstes zu erkennen; er findet seine Vision einer katholischen Kirche, die in den Untergrund geht, sich also zu einem Dasein als exotische Minderheit bekennt, äußerst verführerisch. Joshua Cohen hält für wertlos, wenn ein verwässertes religiöses Judentum mehr Söhne und Töchter Israels dazu lockt, dass sie sich wenigstens manchmal am Samstagvormittag in der Synagoge blicken lassen. "Mir reicht es", sagt er, "wenn am Ende ein Minjan übrig bleibt." Also das Quorum jener zehn volljährigen jüdischen Männer, das man zum gemeinschaftlichen Gebet braucht. Wie hält er es überhaupt mit der Religion? Cohen stammt väterlicherseits von deutschen Juden aus Bernkastel ab; die Ursprünge seiner Mutter liegen in Ungarn. Als junger Mann wurde er auf eine Jeschiwa geschickt, also eine Talmudschule – und noch immer merkt man seiner Prosa an, dass hier ein religiös gebildeter Mensch schreibt. Aber er isst längst nicht mehr koscher. Und die Gesetze des Schabbats hält er auch nicht mehr ein. Mittlerweile hatte es angefangen zu tröpfeln, später brachen die Wolken, und das Regenwasser pladderte aus Eimern auf die Stadt herab. Wir hatten uns unterdessen mit Kaffee, Keksen und Croissant unter eine Markise geflüchtet. Dort sprachen wir über Robert Musil: "Ist dir klar, dass sein 'Mann ohne Eigenschaften' eine großartige HBO-Serie ergeben würde? Man müsste das Ganze nur ins heutige New York, sagen wir zur Zeit der Occupy-Wall-Street-Bewegung, versetzen." 25 Seiten eines Drehbuchs hat Cohen aus Spaß längst geschrieben, nur kennt bei HBO kein Mensch den Namen Musil. Danach sprachen wir über die Enden von Romanen: "Am besten hat es natürlich Kafka gemacht. Überhaupt keine Enden. Oder drei im Nachlass, und der Leser kann sich eines aussuchen."

Den Schluss von Joshua Cohens "Witz" bilden mehrere Seiten voller Pointen, ohne Punkt und Komma hintereinandergereiht, denen alles fehlt, was vor ihnen kam. Zu guter Letzt unterhielten wir uns über Josef Stalin und seinen Respekt vor Schriftstellern, der wahrscheinlich daher kam, dass er selber ein Dichter war, übrigens leider kein ganz unbegabter. Manche seiner Kritiker hat der Massenmörder leben lassen, weil er ihr Talent achtete – Platonow zum Beispiel. "Ich finde tröstlich, dass ich auf einer Liste von amerikanischen Schriftstellern, die liquidiert werden müssen, erst ziemlich weit am Schluss auftauchen würde", sagte Joshua Cohen beinahe fröhlich.

Nun kann man sagen: Selbstlob stinkt, auch wenn es dermaßen kompliziert verklausuliert daherkommt. Aber wenn es doch berechtigt ist?

Joshua Cohen: Vier neue Nachrichten. Aus dem Engl. von Ulrich Blumenbach. Schöffling, Frankfurt/ Main. 272 S., 19,95 €.