Cannes-Tagebuch: Requiem mit Femme fatale

Aus Cannes berichtet

Letzte Wettbewerbsfilme: Cannes auf der Zielgeraden Fotos
DPA/ Cannes Film Festival

Kurz vor Schluss wird es in Cannes schwer symbolisch: Andrej Swjaginzew rechnet im lustig-lakonischen Bibelgleichnis "Leviathan" mit seiner Heimat Russland ab - und Olivier Assayas stellt in "Sils Maria" fest, dass er für Superheldenfilme zu alt ist.

Erst einmal Zielwasser trinken: In Russland schenkt man Wodka bekanntlich so ein, dass man die Flasche kopfüber stülpt, um das Glas schneller randvoll laufen zu lassen. Und dann wird der Vier- oder Fünffache in einem langen Schluck hinuntergekippt.

So machen es auch die Männer in "Leviathan", bevor sie sich am Wochenende mit Schießübungen vergnügen. Als Ziele dienen, was sonst, leere Wodkaflaschen. Einer der Männer hat sich anlässlich seines Geburtstags eine Kalaschnikow mitgebracht und mäht gleich die ganze Reihe Pullen nieder. Macht doch nichts, sagt er zu seinen empörten Freunden, er habe noch viel bessere Schießscheiben mitgebracht. Aus seinem Auto holt er denn gerahmte Bilder ehemaliger russischer Staatschefs, von Breschnew bis Gorbatschow. Ob er denn keine aktuelleren habe, wird er gefragt. Er winkt ab: Nicht genug historische Perspektive.

Regisseur Andrej Swjaginzew zeigt in seinem - immerhin staatlich geförderten - Film nicht, wie die Männer auf die Bilder schießen, und der Name Putin fällt nicht explizit. Aber die Botschaft wird trotzdem treffsicher platziert und das auf ungewöhnlich humorvolle Weise: Zeitweise blitzt in "Leviathan" etwas von jenem lakonischen Humor und dem tiefen Verständnis für Allzumenschliches durch, die man sonst nur aus Filmen der Coen-Brüder kennt. Mit seinen amerikanischen Kollegen teilt der Russe, der 2007 mit seinem weitaus schwergängigeren Film "Die Verbannung" in Cannes war, auch den Hang zu symbolischen Geschichten.

"Leviathan", der Titel deutet es an, ist eine ins heutige Russland verlegte Variation der biblischen Hiob-Story: Nikolay (Alexej Serebriakow) lebt in einem malerischen, aber verfallenden Fischerdorf an der Barentssee und wird von Gott hart auf die Probe gestellt: Der korrupte Bürgermeister betrügt ihn um sein Grundstück, und als er einen alten Kumpel, einen attraktiven, mit allen Wassern gewaschenen Anwalt aus dem fernen Moskau, zu Hilfe holt, steigt der erst mal mit Nikolays junger Frau ins Bett und lässt sich dann auch noch von den Schergen des Bürgermeisters verprügeln und fortjagen. Klare Sache: Wer im heutigen Russland auf Moskau, also den Staat, setzt, hat schon verloren.

Am Ende wird Nikolay, vermutlich unschuldig, im Gefängnis landen, und der Bürgermeister, im Schulterschluss mit dem heuchlerisch frommen Patriarchen der orthodoxen Kirche, setzt eine prunkvolle Zwiebelturm-Kirche an die Stelle, wo Nikolays Familie jahrzehntelang wohnte. In den Tümpeln hinter den Dünen liegt derweil ein riesiges Walskelett. Der Leviathan Russland ist gestrandet.

Swjaginzew rechnet mit den Zuständen in seiner Heimat ebenso harsch und umfassend ab wie Nuri Bilge Ceylan mit der Türkei zu Beginn des Festivals in "Winter Sleep". "Leviathan" ist nicht nur ein filmischer Triumph, er kommt auch zur rechten Zeit. Denn während die Welt in Russland aktuell nur Putins aggressive Ukraine-Politik sieht, vermittelt der 1964 in Nowosibirsk geborene Swjaginzew Verständnis für eine Bevölkerung, die an ihrer Führung und dem Verlust von Moral und Gerechtigkeit verzweifelt. Kein Wunder, dass der Wodka in Strömen fließen muss, sonst wäre der Verwesungsgeruch wohl unerträglich.

Sollte sich Swjaginzew mit seinem bisher besten Film kurz vor Schluss des Festivals noch für einen Preis empfohlen haben, es würde nicht überraschen.

Stewart und Binoche

Auch der französische Filmemacher Olivier Assayas ("Carlos") könnte noch etwas gewinnen. Sein "Sils Maria", der am Freitag den Wettbewerb abschloss, wurde allerdings nach der Pressevorführung ebenso leidenschaftlich beklatscht wie ausgebuht. Es ist ein Film, der spaltet, also ein sehr passender Abschluss für ein Filmfestival. Denn Assayas, 59, reflektiert darin klug und unterhaltsam sein eigenes Alter und den Status Quo seines Schaffens. Interessanterweise nimmt er dabei eine reine Frauenperspektive ein.

Erzählt wird die Geschichte des alternden europäischen Filmstars Maria Enders (Juliette Binoche), die in die Schweiz reist, um ihren Entdecker zu ehren. Dummerweise stirbt jener Wilhelm Melchior, der die junge Schauspielerin einst in seinem Drama "Maloja Snake" als Femme fatale besetzte, just an diesem Tag, und die Feier wird zum Requiem. Ein junger, angesagter Theaterregisseur aus Deutschland (Lars Eidinger) bietet Maria die Hauptrolle in einem Remake des Stückes an. Allerdings soll sie nun nicht mehr die verführerische Sigrid spielen, sondern deren Opfer, die reife, aber auch verletzliche Helena.

Maria, eitel und narzisstisch wie jede Aktrice, sträubt sich, entscheidet sich dann aber doch dafür, den Perspektivwechsel zu wagen. Zusammen mit ihrer jungen Assistentin Val (Kristen Stewart) zieht sie sich in Melchiors Chalet bei Sils Maria zum Proben zurück. Val übernimmt den Part der provozierenden Sigrid, und alsbald verwirren und verheddern sich Rollen und Identitäten zu einem Vexierspiel über den Abschied von der Jugend und die Akzeptanz des Älterwerdens.

Es macht Spaß, Stewart und Binoche dabei zuzusehen, auch wenn sich Assayas vermutlich absichtlich für eine klobige, manchmal enervierend hölzerne Theaterhaftigkeit entschieden hat. Gegen David Cronenbergs ätzende Hollywood-Satire "Maps To The Stars" wirkt "Sils Maria" wie der verkopft-verklemmte Versuch eines tradierten Bühnenregisseurs, einen Superheldenfilm zu drehen. Eine Szene aus einem fiktiven "X-Men"-Film mit der neuen Sigrid-Darstellerin (Chloë Grace Moretz), einem jungen Hollywood-Starlet, kommt tatsächlich vor: Sie wirkt wie die Karikatur eines Marvel-Events.

Aber genau darum geht es dem Regisseur in seinem bemerkenswerten Selbstgespräch: Seine Welt, die des Theaters und des seriösen Arthouse-Films, seine Art, Filme zu machen oder Kunst und Künstler zu betrachten, kollidiert mit den atemlosen Celebrity-News auf TMZ, die Val Maria vorliest, und mit großen Dramen, die heute nicht mehr von Shakespeare stammen, sondern von Stan Lee. Binoche und Stewart, die eine ein europäischer Autorenfilmstar, die andere ein junges Hollywood-Talent, das mit einem Fantasy-Franchise berühmt wurde, verkörpern diesen Generationenkonflikt auch im echten Leben, was dem Film eine weitere Facette zufügt.

Assayas' Leistung ist es, eben nicht in die zu erwartende Altknacker-Haltung zu verfallen und die populären Moden der Jugend und des modernen Kinos mit Arroganz und Galle zu veralbern. Er nimmt beides ernst und zeigt mit seiner klobigen X-Men-Szene sogar die Größe, darzustellen, dass er mit bunten Comics und 3D nicht mehr mithalten kann und will. Wie die Maloja-Schlange, ein reales Wetterphänomen am Silser See, schleicht sich der Dunst des Alterns ins Denken und legt sich, Verständnis und Toleranz vernebelnd, über die Wahrnehmung. Assayas jedoch ruft zur Gelassenheit auf: Alt und Neu, Tradition und Moderne, existieren parallel und stehen im Dialog miteinander, nur die Sichtweisen verändern und verschieben sich.

"Sils Maria" wird dadurch zu einem sehr versöhnlichen Kino-Kunststück im ewig währenden Gespräch zwischen Hollywood-Mainstream und Arthouse, das hier in Cannes jedes Jahr neu geführt wird.

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