Cannes-Tagebuch: Die Alte-Sack-Saga geht weiter
Das Kinopublikum wird immer älter? Passend dazu präsentiert Hollywood-Veteran Tommy Lee Jones in Cannes mit "The Homesman" den ersten Geronto-Western. David Cronenbergs "Maps to the Stars" bringt vulgäre Celebrity-Culture-Kritik.
Am vierten Festivalmorgen gab es in Cannes den sicherlich umsichtigsten Film zu sehen: Tommy Lee Jones zeigte mit seiner zweiten Regiearbeit "The Homesman" einen Western, wie er nicht besser für die Ü-70-Riege seiner Kollegen im Wettbewerb hätte geeignet sein können. Der 67-jährige Jones spielt in "The Homesman" nicht nur selber den rüstigen Titelhelden, er dosiert auch Schießerei, Reiterei und Sex absolut herz- und kreislaufschonend.
Zwar traut sich Mary Bee die mehrwöchige Fahrt zu, aber als sie am Dorfrand auf den Ganoven George (Tommy Lee Jones) trifft und ihn vorm Lynchmord durch die Nachbarn rettet, fordert sie als Gegenleistung seine Begleitung für die Fahrt ein. Und so macht sich das odd couple mit drei verrückten Frauen im Gepäck auf die weite Reise.
Schon bei der Szene, in der Jones seine eigene Figur einführt, hätte man wohl gewarnt sein müssen, dass der Film nicht aus einem Guss sein würde. Waren die ersten Minuten mit Swank noch einigermaßen grimmig, plumpst Jones kurze Zeit später in völlig anderer Ästhetik und mit Slapstick-Effekt in die Geschichte.
Ab diesem Zeitpunkt lässt es sich Jones nicht mehr nehmen, den Rest des Films über die besten Pointen zu landen und im Mittelpunkt der spektakulärsten Szenen zu stehen - auch wenn diese altersgerecht actionarm ausfallen und selbst der Beischlaf unterm Bisonfell nur für mäßig erhöhten Puls sorgt. Die Lösung, die das Drehbuch von Jones, Kieran Fitzgerald und Wesley Oliver nach dem gleichnamigen Roman von Glendon Swarthout für Swanks Figur vorsieht, gerät zusätzlich unbefriedigend, weshalb sich der Film mehr und mehr zum eitlen Showcase für Jones entwickelt.
Was nicht heißen soll, dass "The Homesman" nicht auch unterhält und mit toller Kinematografie zu begeistern weiß. Aber wenn Jones zum Schluss mit der 16-jährigen Hailee Steinfeld flirtet, möchte man ihm wirklich gern auf die Schulter klopfen und sagen: Komm, ist gut.
Gael Garcia Bernals Selbstparodie als edler Wilder
Dass man mit dem Genre Western buchstäblich wildere Dinge anstellen kann, beweist der argentinische Film "El Ardor" ("Die Glut"), der außer Konkurrenz läuft. Autor und Regisseur Pablo Fendrik parodiert das Genre so geschickt, dass man zunächst kaum bemerkt, wie er einem eine "Django Unchained"-Rachefantasie für die lateinamerikanische Landbevölkerung unterjubelt.
Weltkinostar Gael Garcia Bernal, der in diesem Jahr auch Mitglied der internationalen Jury ist, spielt darin den bildschönen Racheengel Kai, der einem kleinen Tabakbauern und dessen Tochter zu Hilfe eilt, als sie von den brandrodenden Handlangern eines Großkonzerns dazu gezwungen werden sollen, ihren Hof im argentinischen Urwald zu verkaufen. Bei der ersten Attacke gewinnen die Landräuber noch die Oberhand. Doch mit Hilfe von Medizin aus eingekochten Schlangenhäuten (!), selbstgerollten Kräuterzigarren, die Hellsichtigkeit verleihen (!!), sowie raffinierten Fallen, die allein aus Naturmaterialien aus der unmittelbaren Umgebung gebastelt sind (!!!), setzt Kai ihnen schon bald eigenhändig und nachhaltig zu.
Was sich geschrieben einigermaßen absurd ausnimmt, wird von Fendrik indes vordergründig konventionell und humorlos inszeniert, sodass man bei oberflächlicher Sichtung schnell das Interesse an "El Ardor" verlieren könnte. Doch dann ist da diese seltsame Bestie, halb Leopard, halb Tiger, die sich nur an den Bösen vergeht und dem schlafenden Kai äußerst pittoresk zu Füßen legt. Und spätestens wenn beim Shootout im Tabakfeld aus dem Nichts Kirchenglocken erklingen, ist klar, dass sich hier jemand ein großartiges Spiel mit den Erzählkonventionen erlaubt.
Nicht zuletzt kann man in der Rolle des Kai sogar eine Selbstparodie von Hauptdarsteller Garcia Bernal erkennen. Wenn er als edler Wilder mit halbnacktem Oberkörper, Lederbändern im Haar und diffus tribalistischen Tattoos durch den Urwald streift, nimmt er auch seine Verklärung zum Vorzeigegesicht des lateinamerikanischen Kinos auf die Schippe.
Verstörende Poesie bewahrt vor der Komplett-Katastrophe
Von so viel Subtilität kann man bei David Cronenbergs Wettbewerbsfilm "Maps to the Stars" nur träumen. Mit Stars wie Julianne Moore, John Cusack und Robert Pattinson gespickt, setzt der Film zu einer ausnehmend lahmen Satire auf Hollywood an, in deren Mittelpunkt die alternde Schauspielerin Havana Segrand (Moore) und der skandalumwitterte Teenieschwarm Benjie Weiss (Evan Bird) stehen, die jeweils um ihre Karriere kämpfen müssen.
Mit billigen Pointen, die vornehmlich aus Namedropping von echten Playern der Filmbranche bestehen und damit dem Cannes-Publikum in seiner Eitelkeit schmeicheln, dass es den Seitenhieb auf Harvey Weinstein verstanden und in Benjie Weiss eine Justin-Bieber-Parodie erkannt hat, schippert "Maps to the Stars" in seichtesten Gewässern.
Vor der Komplett-Katastrophe bewahrt "Maps to the Stars" nur die verstörend poetische Geschichte eines traumatisierten Geschwisterpaars, die Cronenberg und Drehbuchautor Bruce Wagner dann doch geschickt unter die stumpfen Gags mischen. Von der sei hier am besten nichts verraten, weil ihre behutsame Entwicklung den einzigen Reiz des Films ausmacht.
Aber vielleicht ist auch das nur eine Frage der schonenden Dosierung: Mehr Punch - und der Film hätte womöglich für erhöhten Blutdruck gesorgt. In diesem gerontophilen Wettbewerbsjahrgang scheint man das aber unter allen Umständen vermeiden zu wollen.
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