Gastkommentar von Hans-Gert Pöttering

Der Arabische Frühling und die Situation in den besetzen Gebieten haben mehr gemeinsam, als man denkt. Die Palästinenser fühlen sich bestärkt, politischer Wandel muss auch hier möglich sein. Es ist an Europa, die Revolte in der arabischen und nordafrikanischen Welt - aber auch in Israel - viel stärker zu unterstützen. Die Zeit drängt.

Hans-Gert Pöttering, 65, ist Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung; er war von 2007 bis 2009 Präsident des Europäischen Parlaments.

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Vorbild Arabischer Frühling: Aus den Ereignissen in den Nachbarstaaten haben junge Palästinenser gelernt, wie viel sich mit friedlichem Protest bewegen lässt. Hier demonstrieren sie gegen die jüngsten Militäroperationen Israels im Gazastreifen. (© AFP)

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Jubel, aber auch noch Schüsse in Tripolis, der gefallenen Bastion des libyschen Diktators Gaddafi - in Europas Nachbarschaft vollziehen sich epochale Umbrüche. Ihr Ausgang mag ungewiss sein - sicher ist aber, dass die Europäische Union von diesen Entwicklungen unmittelbar betroffen ist. Sie kann es sich daher nicht leisten, als Zuschauer den Gang der Dinge abzuwarten.

Auf den ersten Blick haben der arabische Frühling und die Initiative der Palästinenser, ihre Forderung nach Eigenstaatlichkeit vor die Vereinten Nationen zu bringen, wenig miteinander zu tun. Die Menschen in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern streben nach einem Leben in "Freiheit von Furcht und Not" (wie es in der Präambel zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt), während die Palästinenser endlich die Früchte ihrer jahrelangen Arbeit für den Aufbau staatlicher Strukturen ernten wollen.

Dennoch gibt es eine Wechselwirkung: Der arabische Frühling bestärkt die Palästinenser in der Überzeugung, dass Stagnation kein unabwendbares Schicksal, dass politischer Wandel durch friedlichen Protest erreichbar ist. Umgekehrt droht derzeit wegen der Angriffe auf Israel aus dem Gaza-Streifen heraus und der israelischen Reaktion eine Eskalation. Das Risiko geht nicht nur zu Lasten Israels und seiner Nachbarn, sondern auch Europas.

Hinzu kommt die - zunächst einmal innenpolitisch motivierte - Protestbewegung in Israel. Die zurzeit beliebten Vergleiche zwischen dem Tahrir-Platz in Kairo und dem Rothschild-Boulevard in Tel Aviv sind unangebracht. Aber es gibt durchaus eine untergründige Verbindung zwischen den Demonstrationen in Israel und den ungelösten regionalen Konflikten.

So verschlingen Unterstützung und militärische Sicherung jüdischer Siedlungen auf palästinensischem Gebiet Summen, die im israelischen Staatshaushalt für drängende sozial-, familien- und bildungspolitische Aufgaben fehlen. Immer mehr Israelis fragen sich, weshalb ihnen die Dividende einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts vorenthalten bleibt - einer Lösung, die seit den Vereinbarungen von Oslo 1993 schon öfter in greifbarer Nähe schien. In dieser offenen Situation benötigen Nordafrika und der Nahe Osten starke Partner, die auf dem Weg zur freiheitlichen Demokratie und zu einem stabilen inneren und äußeren Frieden behilflich sind.

Die Europäische Union ist jetzt besonders gefordert. Die gestaltende Einflussnahme auf den Wandel in der südlichen Nachbarregion ist eine Herausforderung von weltpolitischem Rang, die erste wirklich große Aufgabe für die EU seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon. Die Instrumente für gemeinsames und wirksames europäisches Agieren sind vorhanden.

Damit sie genutzt werden können, bedarf es eines Konsenses in der Sache. Dabei müssen wir jedoch auch klar die Urheberschaft der Veränderungen und die Verantwortung dafür bei den Menschen in der Region belassen. Das Beispiel Libyen zeigt deutlich, dass es zunächst und vor allem ein Sieg des libyschen Volkes ist, das sich mit Unterstützung durch UN und Nato des Diktators entledigt.

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