26.05.2011

Der tunesisch-französische Schriftsteller Abdelwahab Meddeb über die Zukunft des arabischen Frühlings: Der Islam ist krank, aber er kann geheilt werden

Von Marcus Rothe, Michael Hesse

Abdelwahab Meddeb, 1946 in Tunis geboren, stammt aus einer Familie islamischer Theologen und Schriftgelehrter. In den 60er-Jahren ging er als Student nach Paris, wo er heute als Lyriker und Essayist lebt. In seinem vielbeachteten Buch "Die Krankheit des Islam" (2002, deutsch im Unionsverlag) beklagte er nach den Ereignissen des 11. September den allgemeinen Niedergang der islamischen Kultur; nur durch eine intellektuelle Öffnung zum Westen könne dieser aufgehalten werden. Herr Meddeb, in Ihrem Buch haben Sie den Fundamentalismus als die "Krankheit des Islam" beschrieben. Sind die Revolutionen in den arabischen Ländern eine Art Gegengift? Ich habe sofort gespürt, dass die tunesische Revolution den Islamismus verändern würde. Lange hat man den Muslimen den Mythos vom Kampf der Kulturen verkauft und zur Rache am Westen, den Feinden des Islam, aufgerufen. Auch wenn El Kaida bis heute nur eine radikale Minderheit geblieben ist, hat diese Einstellung doch unser Bild vom Islam in den letzten Jahren geprägt. Die Ereignisse vom 14. Januar in Tunesien und vom 11. Februar in Ägypten haben die Werte der Freiheit und der Demokratie adoptiert und bieten eine ganz neue Lesart an, die nichts mehr mit dem Kampf der Kulturen und dem Hass auf den Westen zu tun hat. Woran kann man das erkennen? Es wurden während der Revolution keine amerikanischen oder israelischen Fahnen verbrannt und keine anti-westlichen Sprüche skandiert. All die Reflexe und Instinkte, die normalerweise die arabischen und islamischen Sitten in solchen Fällen prägen, gab es diesmal nicht. Wenn der Anschlag vom 11. September die Krankheit des Islam ans Licht brachte, kann der 14. Januar eine Art Heilmittel anbieten. Die beiden wichtigsten Ereignisse des 21. Jahrhunderts stammen vom Islam, sie verhalten sich zueinander wie Antithesen. Sie zeigen, dass der Islam gespalten ist, in einen kranken und einen heilenden Islam. Wird sich das künftige Tunesien weiter auf den Islam berufen und welche Rolle wird das islamische Rechtssystem, die Scharia,spielen? Wir werden alles tun, damit die Scharia nicht in die Verfassung einfließt, denn wir haben in Tunesien ähnlich wie in der Türkei eine große Errungenschaft: Die Scharia ist kein Teil des staatlichen Rechtssystems. Natürlich werden die Islamisten alles tun, um sie in die Verfassung zu integrieren. In Tunesien haben wir aber alle Karten in der Hand, um dies zu verhindern. Wieweit können die Staaten des Maghreb säkularisiert werden? Wird die Verfassung für die Gleichheit von Männern und Frauen, Muslimen und Nicht-Muslimen eintreten? Im ersten Artikel der Verfassung steht, dass der Islam die Religion Tunesiens ist, und dass das Arabische die Landessprache ist. Aber es wird nicht vom Staat geredet. Eine wichtige Nuance. In meinem Buch "Printemps de Tunis" zeige ich, dass dieser Paragraph die Religion nicht stärken, sondern eher neutralisieren sollte. Das funktioniert wie im "Leviathan" von des Philosophen Thomas Hobbes: man entbindet den Klerus der religiösen Autorität. Wird die Revolution in Tunesien den Islamismus revitalisieren? In Tunesien gibt es eine winzige Minderheit der Islamisten, die sich als radikale Dschihadisten sehen und für die Scharia eintreten. Auf der anderen Seite gibt es eine viel stärkere Bewegung, die sich am Beispiel der Türkei orientiert und sich als demokratisch begreift. Diese Menschen wollen ihre Idee niemandem aufzwingen, sie glauben an die politische Vielfalt und die Macht der Abstimmung. Sie wollen einen Dialog mit der westlichen Welt - ihr Vorbild ist Erdogan und die AKP. Wird in anderen Ländern des "arabischen Frühlings" der Islamismus an Boden gewinnen können? Das kann ich nur schwer abschätzen. Ich stochere da wie viele andere Beobachter im Nebel. Aber ich kann mir ehrlich gesagt in Libyen keine Islamisten an der Macht vorstellen. Die Kräfte in Bengasi scheinen nicht islamistisch geprägt zu sein. Der marokkanische König war strategisch intelligent, den Islamisten einen Platz zuzugestehen. Seither stehen die marokkanischen Islamisten für einen Mittelweg, der sich an Erdogans AKP orientiert. Ich finde es interessant an den aktuellen Revolutionen, dass sie sich am türkischen Beispiel von Atatürk und nicht am iranischen Modell der islamischen Revolution orientieren. Selbst die Muslim-Brüder in Ägypten haben ihre Charta geändert und wollen nun keinen islamischen Staat mehr: den islamischen Staat habe es historisch nie gegeben. Sie wollen einen Zivilstaat mit "islamischen Referenzen". Demokratien brauchen Erfolge, um sich zu festigen. Die Deutschen haben es mit der Weimarer Republik erlebt. Jetzt wollen trotz der angekündigten Reformen viele Tunesier und Ägypter ihr Land verlassen: Kann der "arabische Frühling" zum traurigen Herbst werden? Natürlich. Die junge Demokratie hat keine Chance ohne eine starke wirtschaftliche Grundlage. Daher müssen die Europäer in Tunesien und Ägypten eine zentrale Rolle bei der wirtschaftlichen Unterstützung spielen. Sonst werden immer mehr Tunesier ihr Land verlassen. Die erste Etappe auf dem Weg zur Demokratie liegt hinter uns, aber das will noch nichts heißen. Was befürchten Sie genau? Wir kennen zu viele Beispiele, wo eine Diktatur durch eine noch schlimmere Diktatur ersetzt wurde. Viele linksintellektuelle Perser bedauern heute, dass sie den Schah bekämpft haben. Denn die darauffolgende Diktatur der islamischen Republik war noch viel schlimmer. Das Regime des Schahs wie das von Ben Ali war eine Art lokaler Despotismus, der auf einem Minimalstaat basierte. Die Freiheit der Sitten war gewährleistet. Die Homosexuellen oder die Ehebrecher wurden in Ruhe gelassen. Es ging nicht darum, in die Moral einzugreifen. Der Körper des Präsidenten oder des Königs wird sakralisiert. Aber solange man ihn nicht angreift, ist alles andere erlaubt. Der Islam hat eine "globalisierende Tendenz", und in der islamischen Republik hat sich die Religion in eine Ideologie des Kampfes verwandelt. Der Iran wurde so von einem despotischen in einen totalitären Staat verwandelt. Sehen Sie im arabischen Frühling Parallelen zum Prager Frühling, der scheiterte? Ja, er scheiterte, aber er war dennoch eine extrem wichtige Erfahrung, die später zum Ende des Ostblocks führte. Genauso kann der arabische Frühling scheitern. Aber eins ist sicher, wie damals in Prag: Die Strukturen der Macht sind erschüttert worden. Egal was passiert, es wird nie mehr so sein wie zuvor. Ist die arabische Revolution der Beweis, dass die Menschenrechte universell gültig sind und dass der Kulturrelativismus der arabischen Despoten nur ein Mittel zur Machterhaltung war und jetzt verschwinden wird? Das ist die große Frage des Moments. Ich habe sie vor kurzem mit Tarik Ramadan in "Le Monde" diskutiert. Ramadan behauptet, die Menschen hätten durch den Islam die universellen Werte wiedergefunden. Ich lehne diese Sicht ab. Alle diese Ereignisse des arabischen Frühlings haben aus Gründen stattgefunden, die Kant und die Philosophen der Aufklärung die Grundrechte genannt haben: die Freiheit und die Würde. Die Menschen haben revoltiert, weil ihre Menschlichkeit erniedrigt worden war und nicht, weil sie sich in ihrer Rolle als Muslime verletzt gefühlt haben. Welches Signal sendet diese Revolution aus? Sie ist ein Symbol für die ganze Welt. Und sie bringt selbst Europa zum Staunen. Ich sehe es in Paris an meinen Studenten: Sie sind post-politisch, wollen sich in keiner Partei engagieren, aber sind von der Idee fasziniert, dass man eine aktive Figur in der Geschichte sein kann, ohne politisch zu sein. Wie man mit Hilfe des Internet als post-politischer Mensch Geschichte machen kann. Und dieses Beispiel der Revolution wird in Europa imitiert werden, da bin ich sicher. Das Gespräch führten Michael Hesse und Marcus Rothe. ------------------------------ Foto: "Es wird nie mehr so sein wie zuvor": Abdelwahab Meddeb.

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