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Sarkozys Türkei-Politik
Wo Europas Grenze liegt



Frankreichs Präsident Sarkozy möchte die Türkei auf keinen Fall in die EU aufnehmen und sucht nach Möglichkeiten der Grenzziehung. Europa braucht aber keine Grenzen, sondern Verständnis für das, was in der Welt vor sich geht, meint Zafer Senocak.

Französischer Präsident Sarkozy; Foto: AP
Bild vergrössern Für Sarkozy gehört die Türkei nicht zu Europa. Doch ironischerweise sind die französischen Ideale von Republikanismus und Laizismus Vorbild für das türkische Staatsmodell und dem Streben nach Europa.
Der neu gewählte französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat einiges vor. Energie und Gestaltungswille kann dem kleinwüchsigen Mann an der Seine nicht abgesprochen werden. Im Gegenteil, er erinnert ab und zu an ein hyperaktives Kind, das man sehr genau im Auge behalten muss.

Unter anderem möchte Sarkozy die Türkeipolitik Europas umkrempeln. Anders als Angela Merkel, die auch eine Gegnerin des türkischen Beitritts ist, hält sich Sarkozy nicht zurück. Anders als die Kanzlerin, scheint er sich an keine Staatsräson gebunden zu fühlen.

Die EU hat längst Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen, ist also eine Verpflichtung eingegangen. Für Sarkozy aber gibt es keinen Grund, diese Verhandlungen weiterzuführen. Denn die Türkei gehört für ihn nicht zu Europa. Anders als die meisten Beitrittsgegner braucht er nicht viele Worte, um seinen Standpunkt zu begründen. Er macht aus der Türkeifrage eine schlichte Grenzfrage.

Als wäre Europa bereits ein Staat, der seine Grenze festlegen müsste, um zu existieren. Jedermann weiß, dass dies nicht der Fall ist und sobald auch nicht der Fall sein wird. Vielmehr ist Europa in guten Tagen eine Wertegemeinschaft, in schlechten ein bürokratisches Monstrum, das demokratisch nur schwach legitimiert ist. Europa ist aber auch Hoffnung auf Frieden auf dem Kontinent und mehr Einfluss
in der Welt.

Geographische Grenzziehung nicht möglich

Grenzfragen sind immer auch Anerkennungs- und Identitätsfragen. Eine Grenze, braucht nur derjenige, der sich bestätigt sehen will, der sich gegenüber einem anderen absichern möchte. Sarkozy möchte Europa gegenüber der Türkei absichern. Denn ein geographisches Argument fällt aus. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um festzustellen, dass Zypern südlich von der Türkei liegt, ferner als Istanbul und Ankara. Zypern, das längst Mitglied der Europäischen Union ist.

Zafer Senocak; Foto: DW
Bild vergrössern Zafer Senocak: "Sarkozy profitiert davon, dass die Angst der Menschen zurzeit größer ist als ihre Hoffnung"
Sarkozys Streben nach einer Grenze kann aber auch als ein Versuch gedeutet werden, den Einfluss Frankreichs in der EU zu erhalten. Ein so großes Land wie die Türkei, mit ihren bald 80 Millionen Einwohnern, mit ihrer dynamisch wachsenden Wirtschaftskraft darf nicht dazu stoßen.

Wäre es da aus französischer Sicht nicht besser, die Türkei zu einer führenden Macht in der Mittelmeerregion zu machen, was sie ja schon längst ist, wenn man von den Mitgliedstaaten der EU absieht. Mit diesem Köder, einer Gemeinschaft der Mittelmeerstaaten, wird Sarkozy versuchen die Türken umzustimmen.

Türkische Kulturrevolution und Grenzüberschreitung

Dass er das überhaupt versucht, deutet nur daraufhin, dass er von türkischer Geschichte und den Empfindlichkeiten und den Träumen der Türken keine Ahnung hat. Die Türkei nämlich bemüht sich seit fast hundert Jahren um eine Grenzüberschreitung.

Eine ganze Kulturrevolution ist in Gang gesetzt worden, um den Limes zwischen Ost und West, zwischen Europa und dem Orient aufzuheben. Man kann darüber streiten, wie gut das gelungen ist. Aber der Versuch war zivilisatorisch wertvoll und hat eindeutige Spuren hinterlassen.

Ironischerweise war Frankreich mit seinem Republikanismus, mit den Idealen der Aufklärung und dem laizistischen Staatssystem das Vorbild der Türken. Die türkische Grenzüberschreitung ist heute weitaus mehr von Bedeutung, als Europas Sehnsucht nach Grenzen, denn sie ist dem Geist Europas entsprungen. Was die Europäer heute hemmt, ist der verlorene Glaube an die Errungenschaften der eigenen Zivilisation. Nichts brauchen sie dringender als Bündnispartner jenseits einer imaginären Grenze.

Die Türkei ist dieser Partner. Wenn sie bereit ist, auf dem Weg nach Westen weiterzugehen, ist das eine Botschaft, die eigentlich gefeiert und unterstützt werden müsste. Denn was für ein Vorteil hätte Europa von einem Kulturkampf, in dem man nicht einmal an die eigenen Werte glaubt.

Stagnation durch Abgrenzung

Europa braucht keine Grenzen, sondern eine Entgrenzung im Kopf, um besser lesen und aufnehmen zu können, was in der Welt geschieht. Das ist in Zeiten der Massenkommunikation nicht immer einfach, oft eine Herausforderung an die Aufnahmekapazität jedes Einzelnen und auch eine ständige Prüfung eigener Gewissheiten.

Die Alternative dazu aber ist lediglich Stagnation, Phlegma, gut zu beobachten an Frankreich. Diese Stagnation gefährdet nicht nur den wirtschaftlichen Aufschwung, sie bedroht auch das aufklärerische Wertesystem, das nur durch kritisches Hinterfragen eigener Positionen zu erhalten ist. Also durch permanente Entgrenzung eigener Sperrgebiete.

Sarkozy profitiert davon, dass die Angst der Menschen zurzeit größer ist als ihre Hoffnung. Also setzt man eher auf Abgrenzung. Die Sehnsucht nach eindeutigen Grenzen wird stärker. Doch wenn unsere Welt schrumpfen würde, wären wir dann sicherer, froher?

Zafer Senocak

© Zafer Senocak

Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Arbeiten wurden bislang ins Türkische, Griechische, Französische, Englische, Hebräische und Niederländische übersetzt. Er erhielt mehrere Stipendien und 1998 den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis.



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Kommentare

1. Tatsachen verdreht
auf der einen Seite verstehe ich den Autor des Artikels, auf der anderen Seite finde ich, er hat die Tatsachen einfach verdreht und ein falsches Bild entworfen. 1)"Europa braucht keine Grenzen". Nun ja, dann können wir Europa doch gleich "auflösen" oder? Wir könnten die Türkei, Marokko, Israel etc. aufnehmen und die EU in eine U umwandeln. Meine Meinung: gerade jetzt braucht Europa klare Grenzen, eine gemeinsames Leitbild, eine gemeinsame Identität. Glauben Sie denn ernsthaft, eine Aufnahme eines nichteuropäischen Landes würde hilfreich sein gegen Europverdrossenheit vieler EU-Bürger? 2. "Die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei sind eine Verpflichtung." Moment mal, habe ich da etwas verpasst? Welche Begründung liegt hier vor? Warum muss sich ein ganzer Kontinent, ein Staatenzusammenschluss verpflichtet fühlen, mit einem anderen Staat über einem Beitritt zu verhandeln? Ich höre immer wieder diese Forderungen vor allem von gebildeten Westorientierten aus der Türkei, aber niemals die Berechtigung.
Konstantin Metaxas | 14.08.2010 | 15:57
2. EU und die Zukunft
1. EU und die Zukunft Ich bin der Meinung, das die EU Politiker mehr gemeinsame Visionen und Ziele für die EU-Mitbürger vorlegen sollten. Eine EU ohne gemeinsame Visionen und ohne gemeinsame wirtschaftliche und Soziale Wohlstandvorstellungen der Bürger wird auf dauer keine erfolgreiche Zukunft haben. Wir EU-Bürger sollten alle die gleichen Rechte und Pflichten haben. Das heißt gleiche Preise und gleiche Löhne in allen EU Ländern. Önder Demir | 02.03.2008 | 23:41
Önder Demir | 09.03.2008 | 18:44
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