Süd-Kaukasus, Armenien, Aserbaidschan, Georgien - CAUCAZ.COM
Sud-Caucase, Arménie, Azerbaïdjan, Géorgie, Haut-Karabakh, Ossétie du Sud, Abkhazie - Caucase du Sud - Hebdomadaire en ligne CAUCAZ.COM
           Europäische Politik (EU)
  
 
 
JÜNGSTE ARTIKEL ZUM THEMA EUROPäISCHE POLITIK (EU)

Armenien und die EU: Wenn die Wirtschaft die Politik übertrumpft
„Die gegenwärtige Situation in Bezug auf die Konflikte im Südkaukasus kann nicht ewig dauern; es muss etwas geschehen.“
Die Herausforderungen der neuen EU-Ostpolitik im Kaukasus und in Zentralasien
Was sind die Pfeiler einer „Neuen Ostpolitik“ im Rahmen der Deutschen EU-Präsidentschaft
Die Europäische Union will eine Energiestrategie für die Kaspische Region entwickeln
 
DER AUTOR

Kontakt: Laurence RITTER
 
CAUCAZ.COM NEWSLETTER

Informieren Sie unsere Newsletter per Mail als permanent aktuelle Nachrichtenüberblicke von Caucaz.com

 
Drucken | Kontakt | Das Thema "Europäische Politik (EU)" Zu lesen
Türkei–EU: Die Öffnung der armenisch-türkischen Grenze steht zur Diskussion
Artikel erschienen am 13/12/2004


Von Laurence RITTER in Eriwan

Ubersetzt von Werner WUTHRICHT

In Eriwan wie auch in der Diaspora sorgen die Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union für Unruhe. Trotzdem versuchen Bevölkerung, Experten und armenische Behörden, diesem Prozess positive Seiten abzugewinnen, indem sie an eine mögliche rasche Wiederöffnung der armenisch-türkischen Grenze denken, die von der Türkei seit mehr als zehn Jahren gesperrt ist. Wird Armenien dabei nur profitieren?



In vor kurzem erschienenen Berichten in der türkischen Presse, die in armenischen Zeitungen veröffentlicht wurden, gab der Bürgermeister von Kars bekannt, dass seine Petition für eine rasche Wiederöffnung der armenisch-türkischen Grenze nicht weniger als 50.000 Unterschriften erbrachte.

In Kars, einer abgelegenen Stadt in Ostanatolien, vor den Toren des Kaukasus gelegen, die bis zu Beginn der Zwanziger Jahre unter russischer Herrschaft stand, ist das Leben schwer. Weit, sehr weit von Ankara, jedoch nur in 50 km Luftlinie von der hermetisch abgeriegelten Grenze zwischen Armenien und der Türkei, liegt es jenseits der verlassenen Ruinen von Ani, der armenischen Festungsstadt aus dem Hochmittelalter. Die verlassenen Straßen von Kars, schlecht beleuchtet und eine trostlose Stimmung verbreitend, könnten den Aufschwung des kaukasischen Handels gut gebrauchen. Dies ist übrigens das Hauptargument des Bürgermeisters von Kars für die Öffnung der Grenze. Russischer Wodka und armenischer Kognak finden ohnehin ihren Weg in die Stadt. Stellen wir uns doch vor, wie umfangreich der Handel sein könnte – der damals existierte, als die Routen in die Türkei über Georgien liefen –, wenn Armenier und Türken diesseits und jenseits der Grenze frei handeln könnten.

Darüber hinaus lässt das kaukasische Gepräge von Kars kaum Zweifel an seiner Herkunft. Inmitten wüstenhafter Landschaft liegt Kars in einer Gegend, wo es genauso aussieht wie in Armenien. Es ist auch eine Stadt mit langer armenischer Vergangenheit, die durch den Genozid abgebrochen wurde.

Ein Bewohner von Kars erklärt es so: « Seit dem Zerfall der UdSSR bis zur Schließung der Grenze im Jahre 1993 trieben Armenier und Türken problemlos Handel miteinander, ohne an den Genozid und die Massaker zu denken ». Handel als Opium gegen die Erinnerung? Das Problem liegt tiefer.

Wenn sich auch die armenischen Armenier wie die der Diaspora des unvermeidlichen Beitritts der Türkei in die EU wohl bewusst sind, so ziehen sie die wirtschaftlichen Auswirkungen einer möglichen Öffnung der Grenze in ihren positiven und negativen Konsequenzen ebenfalls in Erwägung.

In Armenien ist dieses «zweischneidige» Problem Thema zahlreicher Diskussionen am Runden Tisch. Internationale Experten lösen so einander ab, die die Dringlichkeit einer Öffnung der Grenze unterstreichen – nachdem Armenien erklärte, dass es keine Bedingungen daran stelle, obwohl seine Meinung für niemanden entscheidend ist. Die Debatte wird auch in den Straßen und den Alltagsgesprächen intensiver. In der Tat sind die Busse, die wöchentlich einmal nach Istanbul fahren, brechend voll: Ware, die in Koffern transportiert wird, aber auch Textilien, die in Istanbul gekauft wurden, um hier in kleinen Buden verkauft zu werden, die so zahlreich gedeihen. Dazu kommen die Direktflüge in die türkische Wirtschaftsmetropole.

Man wird begreifen, dass ein freier armenischer Handel mit der Türkei die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung Armeniens nur fördern kann, die trotz der Blockade ermutigende Signale zeigt. Gerade dieses Paradox lässt auch über die weniger positiven Aspekte einer Öffnung nachdenken.

Im Unterschied zu den Armeniern in der Diaspora gelingt es den armenischen Armeniern, wirtschaftliche Überlegungen vom Gedenken an den Genozid zu trennen. Hingegen gibt es nur wenige, die erkennen, dass der Handel mit der Türkei nicht nur Zufluss an Devisen, sondern auch türkisches Kapital und türkische Geldgeber mit sich bringen wird. Im Klartext: Ja zum Handel mit der Türkei. Öffnung der Grenzen: gewiss. Aber welchen Preis wird Armenien für diese wieder gewonnene Handelsfreiheit zu zahlen haben? Den des Aufkaufs des Landes durch die türkische Macht?

Experten murmeln schon jetzt, dass Armenien gut daran täte, sich mit Gesetzen abzusichern, damit bestehende Unternehmen nicht zu jedem Preis durch Geldgeber aus dem Nachbarland aufgekauft werden können. Ein Argument, das man schon jetzt oft hört, wo das Prunkstück eines ehemaligen sowjetischen Industrieunternehmens von ausländischen Aktionären übernommen wird. Kurz, obwohl der wirtschaftliche Nutzen einer Öffnung sehr wohl gesehen wird, gibt es auch eine Mischung aus Angst und Misstrauen.

Die Unterentwicklung im Osten der Türkei

Ein anderes wirtschaftliches Problem, das von der EU bei der Erörterung eines Beitritts selten zur Sprache gebracht wird, da sich die Debatte auf das politische Thema konzentriert, ist die Tatsache, dass die Türkei nicht nur aus Istanbul oder den Meeresküsten besteht, die von Touristen übervölkert werden.

Die Türkei, das ist vor allem die anatolische Hochebene gegenüber dem Kaukasus, eine Halbwüste, im Sommer von der Sonne versengt und in der übrigen Jahreszeit von Schnee und einer intensiven Kälte geprägt.

Die Straßen sind beinahe ohne Verkehr und schlängeln sich überall im Osten mitten durch eine kieselsteinige und feindliche Landschaft an Bergen und mit Fels bedeckten Ebenen hoch. Landwirtschaft gibt es selten, kaukasische Obstgärten – obwohl das Klima ähnlich ist – gibt es nicht und Industrie fehlt. Es gibt wenig Dörfer, wenig natürliche Ressourcen oder größeren Landbau – mit Ausnahme von Baumwolle. Das Lebensniveau ist von Armut und Selbstversorgung einer im Wesentlichen ländlichen Zone geprägt. Im Osten der Türkei verdient ein Arbeiter im Durchschnitt 4 Dollar pro Tag – kaum mehr als sein armenischer oder georgischer Nachbar.

In der Region mit kurdischer Mehrheit, vor allem wenn man nach Diyarbakir und die Gegend von Van fährt, hat die Unterdrückung der Rebellion ihre Spuren hinterlassen. In den Dörfern sind die traditionellen Strohhäuser oft verlassen. Der ländliche Exodus hin zur grossen Stadt Van wurde zu einer Realität, solange die Lebensbedingungen dort kärglich waren.

In Van, auch wenn die Straßen, in denen der Handel sich abspielt, belebt sind und alles ziemlich entwickelt ist, fällt die Wirklichkeit der schmutzigen Vorstädte ins Auge, sobald man sich vom großen Stadtzentrum entfernt. Trotz dieses niedrigen Lebensstandards könnte der Handel mit dieser Grenzregion einen wirklichen Gewinn für Armenien bringen. Nur sind die zu überwindenden Distanzen zwischen den Städten enorm, im Gegensatz zum kleinen Südkaukasus.

Schließlich ist, jenseits von Wirtschaft und Politik, Öffnung nur möglich, wenn Russland grünes Licht dazu gibt. Russland betrachtet diese Grenzen vor allem als die seinen und erst sekundär als diejenigen von unabhängigen Staaten.

Der kürzliche Besuch von Wladimir Putin in der Türkei war nicht wirklich ein starkes Signal für bessere Beziehungen zwischen den beiden Ländern, jahrhunderte alten Feinden, die bereits im Wettkampf um alles stehen, was an das Schwarze Meer grenzt. Russland scheint weder mehr europäischen und amerikanischen Einfluss zu wollen noch dass die Türkei eine Schiedsrichterrolle bei den Grenzen dessen spielt, was es als sein Territorium oder zumindest als seinen Vorhof betrachtet.

Das autoritäre Regime von Putin ist gewiss nicht bereit, auf dem wirtschaftlichen Altar das politische und strategische Interesse zu opfern, das es an den Staaten des Südkaukasus hat – auch nicht für Armenien, seinen treuesten Bundesgenossen in der Region.

Die Öffnung ist ohne Vorbedingungen von armenischer Seite. Also eine vorteilhafte Sache für alle? Viele scheinen so zu denken, in Armenien wie in den angrenzenden türkischen Regionen. Aber dieses neue Spiel wird zweifellos einen ebenso spürbaren Preis haben wie die Entwicklung, die es für Armenien ermöglicht.


© CAUCAZ.COM | Artikel erschienen am 13/12/2004 | Von Laurence RITTER


Alle Rechte vorbehalten © Caucaz.com 2010