Gemeinsinn -- Der Ausdruck Gemeinsinn (gr. koiné aísthesis (ϰοινὴ αἴσθησις), lat. sensus communis, engl. common sense, frz. bon sens) hat zwei Grundbedeutungen. Im Ursprung bezeichnet er bei Aristoteles das Vermögen (des inneren Sinns), das Gemeinsame des mit den äußeren Sinnen Wahrgenommene zu erkennen. Im 18. Jahrhundert bildete sich in Anschluss an die Common-Sense-Philosophie von Thomas Reid und der schottischen Schule die Bedeutung einer gemeinschaftlichen Überzeugung als Grundlage der Erkenntnis heraus. "Gemeinsinn" kann zum anderen als Gegenbegriff zu Eigensinn gebraucht werden. Gemeinsinn ist kein Wahrnehmungsorgan, sondern eine (reflektierende) Urteilskraft für Handlungen ganz allgemein, die sich auf die Gemeinschaft bezieht. Es kann sogar sein, dass man sich in den anderen nur hineindenkt, ohne konkret zu handeln (Mitleiden, Anteilnahme, etc.). Gemeinsinn als ethische Haltung verstanden, ist die Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Verwandte Begriffe sind soziales und bürgerschaftliches Engagement sowie im erkenntnistheoretischen Sinn gesunder Menschenverstand oder auch Hausverstand. -- Von einem inneren Sinn, welcher Sinneseindrücke zu einem Ganzen bündelt, hat schon Aristoteles (de anima III, 2) gesprochen. Nur hierdurch ist das Erkennen von Begriffen wie Bewegung, Zahl, Gestalt oder Größe möglich. -- René Descartes bezeichnet als Gemeinsinn dasjenige, was im Geist die Sinneseindrücke zu einem Gesamtsinneseindruck zusammenfasst. Diese könne über die sogenannten Lebensgeister (esprits animaux) als angeborene Ideen (innate ideas) sowohl Sinneseindrücke in geistig Bewusstes übersetzen als auch zum Beispiel Willensäußerungen als Akte des Geistes in Muskelbewegung umsetzen. Auch Leibniz vertrat gegen Locke die Vorstellung angeborener Ideen. -- Immanuel Kant sah in dieser Auffassung der schottischen Schule nur ein bequemes Ausweichen vor den eigentlichen Aufgaben der Vernunft (Prolegomena, Vorrede). Die gemeine Menschenvernunft ist für die Praxis gut, Metaphysik als Wissenschaft ist aber erst bei dem reinen spekulativen Vernunftgebrauch möglich (KrV B 61). Ein anderes Bild des Gemeinsinns zeichnete Kant hingegen im Bereich der Ästhetik, weil ästhetische Urteile Geschmacksurteile sind: „Unter dem sensus communis muss man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welche in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten. […] Man könnte den Geschmack durch sensus communis ästheticus, den gemeinen Verstand durch sensus communis logicus bezeichnen.“ (Kritik der Urteilskraft § 40). ^[1]. -- Thomas Wanninger diskutiert in „Bildung und Gemeinsinn“ die Bildbarkeit des Gemeinsinns und in einem historischen Überblick Bedeutungsformen und Urteilsfelder des „sensus communis“. Hier wird auch eine Pädagogik des Gemeinsinns entwickelt, weil eben nicht davon auszugehen ist, dass der Gemeinsinn ein Instinkt ist, sondern der Bildbarkeit unterliegt. Dabei wird die Möglichkeit zum Handeln nach den Grundsätzen des Gemeinsinns jedem zuerkannt, er muss sich nur darum bemühen Störendes (Egoismus, Hang zum Vorurteil,...) wegzulassen. Die Frage des Pädagogen ist also nicht, was soll ist zu tun, sondern was ist bewusst zu lassen. Im Grunde handelt es sich hier im eine negative Pädagogik (negare, lat. hinwegnehmen). -- * Art. sensus communis, in: HWPh * Thomas Wanninger: Bildung und Gemeinsinn. Ein Beitrag zur Pädagogik der Urteilskraft aus der Philosophie des „sensus communis“. Bayreuth, Univ. Diss., 1999 * Wolfgang Fänderl (Hrsg.): Beteiligung über das Reden hinaus. Gemeinsinn-Werkstatt: Materialien zur Entwicklung von Netzwerken. (2. Aufl.) Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, 2006. -- * Hermann Lübbe: Gemeinwohl und Bürgerinteresse * Netzwerk Gemeinsinn: Zur gemeinschaftlichen Herstellung [1] Von „http://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinsinn“ Kategorien: Wertvorstellung | Erkenntnistheorie